Food im Wandel der Zeit

In seinen Anfängen - die erste Ausgabe erschien im September 1975 - wurde der Feinschmecker kurzgehal-ten: Wenige Farbfotos, bescheidene Illustrationen in SchwarzWeiß und viel „Bleiwüste" (Text) auf eher tristem Papier. Mehr war im Budget nicht drin - die skeptischen Verlagskaufleute prophezeiten dem Verleger Kurt Ganske einen frühen Hungertod des neuen Magazins „spätestens in einem Jahr". Der überwiegend recht biederen und frugalen Anmutung der frühen Ausgaben begegnete die Redaktion mit dosierter Opulenz - dann mit voller Kelle: Auch 30 Jahre nach dem Krieg wollte man für die damals noch kleine Zielgruppe im kulinarisch kaum entwickelten Deutschland auffahren, Motto „wie bei Fürstens". Höchste Zeit für ein neues Genre im Journalismus: Food-Fotografie.

70er: Bilder erzählen Geschichten
Damit es auch der Letzte versteht: Zu einer zärtlichen Soirée à deux gehören Seafood (aphro-disierend!) und schwarze Oh-là-là-Spitze (lasziv!), der Nau-tilus symbolisiert Harmonie und Beständigkeit (ein Glück!). Wer Tournedos Rossini unwi-derstehlich findet, darf sich auf Augenhöhe mit dem verfressenen Komponisten Gioachino Rossini fühlen.


80er: Reinhart Wolf: Ein kühner Lichterkünstler
REINHART WOLF (1930-1988), in Berlin geboren, studierte u.a. Kunstgeschichte und besuchte Münchens Schule für Foto-grafie. In den 1980ern machte Wolf Furore mit Werbefotografie, die er zu ungeahntem Chic führte. Horst-Dieter Ebert, vormals Feinschmecker-Chefredakteur, besuchte Wolf anlässlich eines Shootings für das Cover der Ausgabe 5/85 (gefüllter Lachs) in seinem Hamburger Studio: „Er tritt mir entgegen, als wolle er gerade auf eine Cocktailparty: im gedeckten Zweireiher, formell mit Krawatte und Kragen." Im Studio riesige Lichtwände, Beethoven aus Lautsprechern - und eine Großbildkamera des Formats 18 x 24, nur über eine Leiter erreichbar. „Sie hängt wie ein gewaltiges Geschütz zwei Meter über dem Teller für das Fotomodell, den Lachs*, staunte Ebert. „Wolf hat die Food-Fotografie aus den Niederungen der barocken Ausstattungs-schwelgerei herausgeführt und aus ihr eine Kunstgattung gemacht.*


90er, frühe 2000er: Ferran Adrià – Magier der Molekularküche
Ende der 90er-Jahre beginnt in dem katalanischen Strandrestaurant das goldene Zeitalter von Paco-jet und Thermomix, von Ge-friertrockner und Rotations-verdampfer, Vakuumierer und Grammwaage. Wichtige Hilfsmittel für diese hochpräzise Küche der winzigen Wunder-sind Xanthan, Lecithin sowie Stickstoff fürs Schockgefrieren. Für viele der oft 30 „Gänge" einer solchen kulinarischen Revue reicht ein Löffel. Man serviert „Luft", „Esspapier" oder essbare „Folien", „Wolken", „Sphären" „Kaviar" aus Melone, Mimikry, wohin man schaut. Keine Küche des 20. Jahrhunderts hat derart polari-siert. Ferran Adrià stellte seine Koch-Kunst 2007 sogar auf der Documenta in Kassel vor.


2000er: „Wow“-Effekte in Zeiten von Social Media
Im neuen Jahrtausend beginnt in vielen Spitzenküchen eine Ära der Miniaturen und der Hochstapelei: Köche, Gastronomen, Food-Stylisten und auch Fotografen entdecken, wie instagrammable nie gesehene Tellerarrangements wirken. Moderne Wolkenkratzer-Metropolen mögen die Kosmopoliten unter den Baumeistern am Herd inspiriert haben. Und auch die Gäste riefen entzückt: „Ahhh!" und „Oooh!", wenn ihnen die Pracht vorgesetzt wurde. Mitunter hatte der Service nun minutenlang damit zu tun, am Tisch alle Elemente auf dem Teller zu erklären und zu erörtern. Derweil zückten nicht nur die Millenials ihre Handys fürs Foto. So kam bald der Begriff Food Porn auf.


2010er: Kochkunst überall
Die Kreativität der Spitzenköche und ihrer Patissiers hat seit der Ära von Ferran Adriàs „Mole- kularküche“ weltweit kräftig Fahrt aufgenommen – auch dank ihrer vielen technischen Möglichkeiten. In Restaurants, die mit edlem Design ausge- stattet sind, muss auch der Look des Essens mit viel Spek- takel mithalten können. Guter Geschmack allein reicht da schon lange nicht mehr – die Kreationen sollen selbst noch weit gereiste Gourmets ver- blüffen und sogleich in den so- zialen Medien ausgestellt und kommentiert werden. Die Sig- nature Dishes namhafter Kü- chenchefs haben nun rund um den Globus einen nicht zu un- terschätzenden Wiedererken- nungswert mit Zeitraffer-Ef- fekt. Das bringt im besten Fall animierte Gäste aus der ganzen Welt gezielt an ihre Tische – von Los Angeles bis Kopenhagen, von Bangkok bis San Sebastián, von Modena bis Bergisch Gladbach.




Eine eigene Disziplin: New Nordic
Das „Noma“ war eine Gourmet-Option auch für Vegetarier und Veganer – und machte in seinen Anfängen Kopenhagen zur kulinarischen Hauptstadt der Welt. Die Idee: kompromissloser Fokus auf saisonale lokale Zutaten, ob gefischt, gejagt, geerntet oder in den Wäldern gesammelt. Krustentiere von den Färöer-Inseln etwa oder das Fleisch des Moschusochsen aus Grönland setzten Qualitätsmaßstäbe. Den optimalen Geschmack jedes Produkts herauszuarbeiten, sei es Muschel oder Möhre, war der Ehrgeiz dieser Küche mit eigenem Versuchslabor. Küchenchef René Redzepi und Kompagnon Claus Meyer gelten als „Erfinder“ der New Nordic Cuisine. Sie eröffneten das „Noma“ 2003 in Kopenhagen. Es wurde mehrfach zum weltbesten Restaurant gekürt und zog scharenweise Hospitanten aus aller Welt an. Das Restaurant (ab 2018 in Christianshavn) ist hyggelig ausgestattet mit viel Holz, getöpfertem Geschirr und duftender Grillstation.



Zum Abschluss noch etwas „Süßes“: Im Restaurant Sühring in Bangkok gibt es eine Referenz an die Süßwarenindustrie. Eneta ist Entenleber mit Aprikosengelee zwischen zwei knusprigen Waffeln - nicht süß, aber besser als das Vorbild.
