Matthias Riedl: „Schon Homo sapiens war Hedonist!"

Dr. Matthias Riedl ist Internist und einer der „Ernährungsdocs“ im NDR-Fernsehen. Gesunde Ernährung soll schmecken, so sein Credo. Wer wollte da widersprechen?
Herr Riedl, Sie als Ernährungsmediziner im Interview in einem Genussmagazin ohne Kalorientabellen: Wie sehr fremdeln Sie?
Gar nicht, denn meine Grundüberzeugung ist ja, dass gesundes Essen schmecken soll, sonst befolgen die Menschen Empfehlungen nicht. Und deshalb ist auch das Zeitalter der Diäten gescheitert und vorbei.
Man stelle sich vor, ein Feinschmecker (oder eine Feinschmeckerin) feiert 50. Geburtstag, hat immer gern Wein getrunken, nie den Fettrand abgeschnitten, Patisserie studiert und sicher etwas Übergewicht. Bitte Ihre Diagnose!
Aus den Langlebigkeitsstudien wissen wir, dass Zuversicht und Dankbarkeit ganz wichtige Kriterien für die Gesundheit sind. Das heißt: Lasst euch das schöne Leben nicht vermiesen! Die Einstellung zum Leben, das gemeinsame Essen sind positiv zu bewerten.
Aber natürlich kann man mit 50 mal einen „Kassensturz“ machen und schauen, wo man Defizite hat. Bei vielen Menschen reicht es, den täglichen Gemüseanteil zu erhöhen, dazu genügend Ballaststoffe zu essen und darauf zu achten, dass man sein Zuckerkonto nicht überzieht.
Sind wir Deutschen in der Ernährung besser oder schlechter geworden?
Unsere Ernährungslandschaft hat sich stark verändert: Früher war es selbstverständlich, immer frisch zu kochen. Jetzt werden im Supermarkt so viele vorgefertigte Produkte mit künstlichen Zusätzen wie noch nie gekauft. Diese hoch verarbeiteten Produkte mit schlechten Fetten wie Palmöl sind der gemeinsame Feind des Feinschmeckers und mir.
Deshalb ist das Magazin für mich auch kein Feindesland.
Werden Sie oft als Spaßverderber wahrgenommen?
Durchaus. Bei einem Talkshow-Auftritt etwa wurde ich nur vorgestellt, und schon schlug Elke Heidenreich die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Ich lasse mir ins Essen nicht reinreden, ich lasse mir nichts verbieten.“
Dabei bin ja nicht der Papst, der mit erhobenem Zeigefinger durch die Gaststätten geht. Gegen das Image des Spaßverderbers kämpfe ich an.
Welche Sünde erlauben Sie sich?
Das Schöne ist, und das entlastet viele Menschen: Es gibt keine Verbote. Wir dürfen wirklich alles essen, die Frage ist nur: wie viel und wann.
Unser tägliches Zuckerkonto von bis zu 50 Gramm dürfen wir ausreizen, und das fülle ich mit Marzipan oder einem Stück Kuchen, aber nur selbst gebackenem, etwa einem Bananabread mit Mandelmehl.
Beim Essen gibt es viele Trends, Stile, Meinungen. Wie bewerten Sie dieses Gewirr?
Die vielen Trends entstehen durch einen Mangel an Wissen darüber, was tatsächlich gesund ist, viele Menschen sind verunsichert.
Und die extremen Felder wie vegan sind nie gut, denn das ist ganz klar eine Mangelernährung. In der Ernährung ist offenbar auch eine gewisse Querdenkerei erlaubt, da verlassen viele schnell den Boden der Forschung.
Man kann den Menschen leicht alles verkaufen, mit tollem Marketing und jungen, attraktiven Influencern, und schon läuft das Geschäft.
In unserem Bund Deutscher Ernährungsmediziner sind übrigens nahezu alle Flexitarier, wie ich selbst auch.
Vieles ist ja auch verblüffend: Jahrelang wurde das French Paradox beim Rotwein gefeiert, jetzt gilt Alkohol vielen als Gift.
Das Pendel schlägt gerade krass um, nachdem wir lange lax mit dem Alkohol umgegangen sind, laxer übrigens als die Franzosen. Zwei Gläser pro Woche sind ok.
Ich bin kein Freund von radikalen Lösungen und trinke auch gern mal einen schweren Bordeaux. Es steckt in uns drin: Schon Homo sapiens war ein Hedonist und wollte Spaß am Genuss haben.
Und wenn man dann doch einmal über die Stränge schlägt?
Das ist ja das Schöne bei der Ernährung, man kann auch einmal einen Tag „versauen“ und hat schon am nächsten Tag die Chance, wieder zurück auf den gesunden Pfad zu kommen und neu zu starten.
Gibt es bei Ihnen auch solche sogenannten „versauten Tage“?
Tja, wenn sich unangenehme Dinge auf dem Schreibtisch stapeln, etwa Nachfragen vom Finanzamt, sinkt meine Laune, und ich werde anfällig für Süßes.
Bedenklich wird es aber immer dann, wenn man von einem ungesunden Tag in den nächsten rutscht, das Gehirn in so eine Dauerprogrammierung kommt. Dann braucht man ein richtiges Ausstiegsprogramm.
Was ist das „Schlimmste“, was Sie dann essen?
Es ist schon mal vorgekommen, dass ich eine ganze Tafel Vollmilch-Nuss gegessen habe. Ich hatte kein Frühstück, einen Bärenhunger und war unter Zeitdruck.
Wie gesund ist aus Ihrer Sicht ein großes Menü im Spitzenrestaurant?
Im Grunde simuliert es die optimale Ernährung: Wir starten mit Gemüse, die Mengen sind überschaubar, die Dauer verhindert auch, dass ich zu viel in kurzer Zeit esse, da werde ich als Gast ja ausgebremst.
Zum Schluss noch etwas Süßes, und man geht zufrieden nach Hause. So soll es sein. Dass man in der Gemeinschaft isst, wirkt sich auch positiv auf die Psyche aus.
Ich gehe gern gut essen, allerdings nur in handverlesene Restaurants, gebe gern viel Trinkgeld und freue mich über unsere Gastronomie. Jede Pleite tut mir weh, da in guten Restaurants hochwertige Lebensmittel sehr geschätzt werden.
Die Zukunft unserer Ernährung
Wie sehen Sie die Ernährung in der Zukunft?
Die Phase der hoch verarbeiteten Lebensmittel ist gerade auf dem Höhepunkt. Aber das ist ein Irrweg, die Menschen werden das der Industrie nicht mehr abkaufen, denn schon Jugendliche haben heute mehr Erkrankungen als wir in dem Alter.
Nichts führt auf Dauer an gesunden, ursprünglichen Lebensmitteln vorbei. Interessant ist, dass Naturvölker 300 verschiedene Lebensmittel zu sich nehmen, wir nur noch 60.
Wenn ich nur an die Supermarktbrötchen denke, die den Namen nicht verdienen! Und in Frankreich hat die Obst- und Gemüseabteilung 300 Quadratmeter, in meinem großen Stammsupermarkt nur 25.
Hochwertige Lebensmittel sind zuletzt sehr teuer geworden und nicht für alle Menschen bezahlbar.
Da tut sich in der Tat eine bedenkliche Spaltung in der Gesellschaft auf: auf der einen Seite High-End-Produkte wie handgemachter Biokäse, auf der anderen Seite industrielle Waren.
Gesunde Lebensmittel sollten sich aber alle leisten können, wir brauchen eine Befreiung von der Mehrwertsteuer oder eine Subventionierung.
Warum macht Ihnen diese Spaltung Sorgen?
Zum einen wissen wir aus Studien, dass der Geist nicht leistungsfähig ist, wenn man sich schlecht ernährt, das ist vor allem für Schüler eine wichtige Basis.
Gutes Essen ist aber auch ein soziales Thema, es ist wichtig für die Stimmung und den Zusammenhalt einer Gesellschaft.
Wir stellen fest, dass Empathie gerade bei jungen Menschen nachlässt, und das hat auch etwas mit Magnesiummangel zu tun, ausgelöst durch Defizite bei sekundären Pflanzenstoffen, Körnern und guten Fetten.
Die Aggressivität im Straßenverkehr lässt sich darauf auch zurückführen. Nachweislich fördert gesunde Ernährung den Spracherwerb bei Kindern, hilft bei ADHS und Depressionen.
Eine Gesellschaft ist nur dann gesund, wenn sie sich auch gesund ernährt.
Obwohl man heute so viel weiß, ist der Ernährungszustand schlechter als früher, sagen Sie. Ein Paradox?
Die Werbung manipuliert uns stark, und man braucht fast ernährungswissenschaftliches Wissen, um im Supermarkt einzukaufen.
Viele Ernährungswissenschaftler arbeiten heute in der Industrie, ich weiß, dass sie gelernt haben, Zusätze ins Essen zu bringen, ohne dass man es deklarieren muss.
Die Lebensmittelindustrie ist eine Fälscherwerkstatt geworden. Für Verbraucher ist das alles schwer zu durchschauen.
Sie haben ja auch ein eigenes Magazin: „Iss dich gesund“. Was wünschen Sie uns als Kollege zum 50. Geburtstag?
Ihnen ist vielleicht gar nicht bewusst, dass Sie im Grunde ein Gesundesser-Journal sind, das können Sie mit Selbstbewusstsein behaupten.
Sie dürfen sich ruhig dafür feiern – und das ist auch noch gesund.