Alleine essen? Ja!

Alleine essen? Ja!

„Keine Frage: Spitzenküche allein zu genießen ist eine Angelegenheit für Fortgeschrittene.“
Datum06.08.2020

Unser Kolumnist

CHRISTOPH WIRTZ, Chefredakteur des „Gault&Millau“, kommt weit herum und lässt sich nicht gern mit Mittelmaß abspeisen.

GELEGENTLICH WERDE ICH DAFÜR BEDAUERT, dass es mein Schicksal ist, an herrlichen Orten wunderbare Dinge zu essen – und zwar ganz allein. Also ohne die Gesellschaft anderer Menschen. Ich nicke in solchen Momenten verlegen, murmele etwas Unverständliches und versuche, das Thema zu wechseln. Andernfalls müsste ich nämlich darauf hinweisen, dass ich dieses Los ertrage, während andere Berufstätige ihren Beitrag zur Erwirtschaftung des Bruttosozialprodukts beispielsweise mittels der Behandlung apikaler Parodontitis leisten – und dass überdies, meiner Erfahrung nach, die meisten Menschen die Vorzüge ihrer Gesellschaft doch dramatisch überschätzen.

Kurz: Ich esse sehr gern allein! Zum Beispiel Samstagmittags an der kühlen Marmor-Bar von „Bentley’s Oyster Bar & Grill“, eröffnet 1916, zwischen Regent Street und Piccadilly. Nirgendwo werden Austern perfekter serviert als hier! Man sitzt hier auf hochbequemen Hockern, wählt zum knackigen Chablis aus einem halben Dutzend verschiedener Sorten und erfreut sich an der für Londoner Restaurants dieses Kalibers typischen Balance zwischen zuvorkommender Höflichkeit und entspanntem Selbstbewusstsein. Die Goujons (Streifen) von der Dover-Seezunge mit erstklassiger Sauce tartare kommen heiß, knusprig, zartgolden und saftig, alternativ ließen sich hier Hummer „Thermidor“, Austern „Rockefeller“ oder Atlantik-Crevetten „Egg Mayonnaise“ endlich einmal schulbuchmäßig erleben!

www.bentleys.org

NOVIZEN DES UNBEAUFSICHTIGTEN GENUSSES empfehlen sich Barplätze ohnehin. Wer will, kommt leicht mit den Sitznachbarn ins Gespräch, in jedem Fall lässt sich das (idealerweise: souveräne) Geschehen hinter dem Tresen beobachten. Nicht grundlos haben die in allen Belangen des Kulinarischen unübertroffenen Japaner die Kultur hochklassiger Thekenrestaurants („kaunta seki“) erfunden, die es ihnen ermöglicht, die Fähigkeiten des Chefs, seine flüssigen Bewegungen, die überlegten Schnitte seiner blitzenden Messer, die verarbeiteten Viktualien und zärtlichen Anrichtehandgriffe aus nächster Nähe zu beobachten.

Ein großes Sushi-Menü ist ausschließlich an einer Bar denkbar! Zum Beispiel im Pariser Restaurant „Jin“ in der Rue de la Sourdière. Hier wirkt in elegant gedämpftem Ambiente mit Takuya Watanabe einer der besten Sushimeister Frankreichs. Wer zum ersten Mal erlebt, was er im Laufe eines Abends aus handwarmem, zart gesäuertem Reis von perfektem Biss fertigt – verbunden mit einer Fischqualität, wie man sie so gut wie nie findet –, der wird für Standardware künftig unrettbar verloren sein. Höhepunkte: ein paar Scheibchen feste, fast transparente Dorade mit einem Stecknadelkopf duftenden Wasabis, perlmuttschimmernder Babytintenfisch von cremiger Textur, zart abgeflämmter Kinmedai (Golden Eye Snapper oder Glänzender Schleimkopf), süßliche Garnelen, dotterzarter Seeigel in knusprigem Nori, blütenweiß durchzogener Thunfischbauch. Nichts lenkt im minimalistischen Ambiente aus dunkelblauen Kacheln, Stein und dem warmen Holz des Tresens von der Konzentration des Chefs ab, sie überträgt sich auf die zwölf Umsitzenden. Großes Kino!

www.jin-paris.com

GASTRONOMIE ALS SCHAUSPIEL ZU BETRACHTEN ist ein wenig aus der Mode gekommen. Beiläufigkeit ist heute alles, was natürlich nicht immer von Vorteil ist. Keine Frage: Spitzenküche allein zu genießen ist eine Angelegenheit für Fortgeschrittene. Man sollte es dennoch einmal versuchen! Sehr leicht macht es dem Gast Daniel Humm mit seinem „Davies and Brook“ im Londoner Claridge’s. Die schöne Klarheit des Raumes, die perfekten Abläufe des sympathischen Service, die Aufmerksamkeit, die hier allen Details gewidmet wird, die traumhaften Teller mit ihren reduzierten kulinarischen Kunstwerken: Ceviche vom Barsch unter Avocado, geschmorter Sellerie mit schwarzer Trüffel, Lavendelhonig-überglänzte, trocken gereifte Entenbrust mit Sauce Civet. Ich kann mir eine inspirierendere Umgebung kaum vorstellen! Man lässt die außerordentliche Eleganz auf sich wirken, ein Glas Wein hebt die Kreativität und das Wohlbefinden, niemand stört den Gedankenfluss. Ein gedeckter Tisch ist nach Nestroy die schönste Landschaft. Man sollte anstreben, sich dort die beste Begleitung zu sein!

www.claridges.co.uk

Davies & Brook
H I M Q F

im Hotel „Claridge’s“, Brook St., W1K 4HR London, GB
+44 20 71078848
www.daviesandbrook.co.uk
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