Die Vordenker – Ferran Adrià
Text: MADELEINE JAKITS
FERRAN ADRIÀS wahrscheinlich größtes Verdienst: Nach einem Menü aus bis zu 40 winzigen Gängen in seinem „El Bulli“ war mit Chance nichts mehr, wie es vorher war. Alle Sinne aufgerüttelt, der Mensch in der Seele erheitert, verblüfft, erschüttert, berührt – dieser Zauberer nahm seine Gäste frontal auf die Hörner, wie der lebensgroße Stierkopf aus Bronze vor der offenen Küche es ja schon ahnen ließ.
Man wurde im Idealfall durch diese Erfahrung für alle Zeiten zum aufmerksameren und, vor allem, denkenden Esser – allein schon, um aufzupassen, in welche Trickkiste Adrià wohl beim nächsten Gang greifen würde. Der gelbe Kaviar, serviert in der Dose – aus Melone! Und das zittrig-grüne Glubschding auf dem Porzellanlöffel? Eine Oliven-„Sphäre“, die flüssige Essenz der Ölfrucht, umhüllt von einem weichen Gel, im Mund löste die Bubble sich in Wohlgefallen auf. Oder der fluffige weiße Schaum, fast leichter noch als Luft: ein reiner Tomaten-Kulturschock, x-fach verstärkt durch die Oberflächenvergrößerung beim Aufschäumen. Dann etwas, das aussah wie feiner Sandstrand: mit Stickstoff durchgefrorene Gänseleber, fein gerieben, auf Tamarindenpüree gebettet und angegossen mit heißer Kalbsconsommé. Ein unvergesslich guter Geschmack.
„EMOTION UND MAGIE“, hat Ferran Adrià immer wieder das genannt, was er bei den Menschen, die zu ihm pilgerten, auslösen wollte. „Über die Qualität des Geschmacks befindet ausschließlich das Gehirn. Wir essen mit dem Gedächtnis.“ Aus dieser Erkenntnis machte der Katalane ein Prinzip: Wer fünf bis sechs Stunden im „El Bulli“ am Tisch saß, kam schon mal ins Nachdenken. Über das Leben. Über das Glück. Über den Spaß, den es machte, den acht teuren New Yorker Anwälten am Nebentisch zuzuschauen, wie sie es brav dem Kellner nachmachten: Den aufgeblasenen weißen Luftballon mit der Schere unten aufschneiden, langsam die Luft vor der Nase rauslassen. Einatmen! Den entweichenden Duft von Orangen- und Mandarinenblüten genießen! Auch wenn der Ballon bei einigen der US-Attorneys dezente Furzgeräusche von sich gab. Kein Kindergeburtstag konnte fröhlicher sein – und wenige Erlebnisse in Restaurants blieben so lange im Gedächtnis.
Ferran Adrià war nie ein Pausenclown, sondern ein Mann mit Humor, der engstirniges Gemäkel über anderer Leute kreative Leistung nicht vertragen kann: „Die ästhetische Intelligenz sollte doch toleranter sein!“ Neue Küchentechniken wie eben die vielen Variationen des Aufschäumens, das Gefriertrocknen, das Gelieren und vieles mehr – Verfahren, die bekanntlich auch die Lebensmittelindustrie anwendet – hat Ferran Adriàs rastlosem Geist schon Mitte der 90er-Jahre neue Türen aufgestoßen, um eine revolutionäre Küche zu entwickeln, die er „techno-emotional“ nannte.
MITTE DES 20. JAHRHUNDERTS sei es in den Küchen Westeuropas vor allem um ständiges Reproduzieren von Bekanntem, Überliefertem gegangen. Aber nicht um Erneuerungen oder darum, „Essen anders zu denken. Wenn man nur reproduziert, kommt man nicht weiter.“ Seine Aufgabe sei es gewesen, so Adria, „in der Küche ein Agitator zu sein, um Kreativität zu entfalten“. Und: sich neues Wissen fürs „Techno-Emotionale“ anzueignen.
2002 reiste Ferran Adrià mit einigen aus seinem Team zum ersten Mal nach Japan. „Es war wie auf dem Mars, wir wussten ja nichts über diese Küche, kannten nur billige Sushi, Sojasauce, Wasabi und vielleicht noch Yuzu.“ Die überwältigende Erkenntnis, dass Japans Küche eine „Seele“ habe, sei in der Folge ein Quantensprung für die Küche des „El Bulli“ gewesen, „denn man kocht nach so einer Erfahrung anders“. Und einer wie Ferran Adrià beschäftigte danach sogar einen Geschirr-Designer. Damals konnte man in der westlichen Top-Gastronomie noch mit eckigen Tellern und Platten provozieren.
„DAS ‚EL BULLI‘ war nicht besser als irgendein anderes gutes Restaurant – aber kreativer!“, hat der Meister der sogenannten „Molekularküche“ mal gesagt, ein Begriff übrigens, der schnell zur Verächtlichmachung und Diffamierung seiner Avantgarde-Küche zur Hand war, die ohnehin nur zu einem winzigen Teil aus Schäumchen und Gelees bestand. „Wir konnten mehr experimentieren, uns Provokationen ausdenken, die den Geist wach halten, Momente schaffen zum Lachen, zum Weinen, zum Ernstsein.“ Spektakel wie die Nebel von Avalon, die der flüssige Stickstoff erzeugt, nutzen sich mit der Zeit ab, das wusste Ferran Adrià, es mussten also stetig neue Sensationen her, etwa das bronzene Zuckerei, gefüllt mit lauwarmem, flüssigem Eigelb. Ein kleines Wunderwerk. Wie machen die das bloß? Dieses staunende Nichtwissen setzte Adrià gleich mit Magie.
Auch der Hot Frozen Gin Fizz gab einem zu denken: Auf die gefrorene Creme aus Zitronensaft, Gin und Läuterzucker wurde ein heißer (!) Eiweißschaum mit Zitrone und Gin aus dem damals plötzlich allgegenwärtigen Siphon aufgespritzt. Oder der trockene Martini: Ein Kügelchen, das auf der Zunge deutlich nach Olive schmeckte, wurde dort direkt mit Gin und Wermut besprüht. Viel Do it yourself am Tisch machte die horizonterweiternden Genusserlebnisse besonders sinnlich.
Sogar das Lästermaul Wolfram Siebeck, über 40 Jahre hochgeschätzter Autor dieses Magazins und kein Freund modischer Mätzchen, war hingerissen, etwa vom grünen Apfelgelee, in das zwölf Gewürze eingelassen waren wie ein Geschmacks-Zifferblatt: „Zwölf Löffelchen, voll mit Aromawundern!“, schrieb er 1997 im FEINSCHMECKER. Siebecks Fazit: „Ferran Adrià hat mit seiner Art zu kochen keine neue Küche in die kulinarische Welt gesetzt, weil sein halsbrecherischer Stil keine Schule machen und Adrià deshalb keine Nachfolger haben wird. Nachahmer vielleicht, aber seine preziösen Schöpfungen sind zu sehr an seine Person gebunden, an seine Vorstellungen, Träume und Empfindlichkeiten, dass Versuche, ihn zu imitieren, scheitern müssen.“
Das „El Bulli“ hatte bis zu 70 Mitarbeiter und nur 50 Plätze. „Von 1994 bis 2011 haben wir mit dem Restaurant kaum genug verdient, um unsere Mitarbeiter zu bezahlen (Anm. d. Red.: Mehr als die Hälfte arbeitete ohnehin unentgeltlich mit, um hier zu lernen). Wir haben uns also daran gewöhnt, kein Geld zu haben. Was keine schlechte Sache ist.“ Das gesamte „El Bulli“-Schaffen von 1846 Rezepten ist auf Zigtausenden Buchseiten minutiös in Wort und Bild katalogisiert und chronologisch zusammengetragen.
Ferran Adrià ist einer der einflussreichsten Köche unserer Zeit. Das Erzeugen von bis dahin unbekannten und überraschenden Konsistenzen mithilfe von Algenextrakten und Zellulosen rief mit der weltweiten Verbreitung seiner neuen Techniken bis in deutsche Gasthausküchen nicht nur Nachahmer, sondern auch Kritiker auf den Plan. Mancher Testesser klagte nach ausgedehnten „Molekular“-Menüs über nächtliches Bauchgrimmen – vielleicht lag es mancherorts an der Gesamtdosis industrieller Zusätze. Adriàs berühmte, über das Internet beziehbaren Texturas, wie auch Xanthan alias E 415, werden in Fabriken genutzt, etwa zur Stabilisierung und Verdickung von weichen oder flüssigen Substanzen wie Ketchup, Zahnpasta oder Senf. Adrià inspirierte viele Kollegen wie zum Beispiel Elena Arzak („Arzak“) und Andoní Luis Aduriz („Mugaritz“) im Baskenland oder René Redzepi in Kopenhagen („Noma“), ebenfalls Labortechnologie und Versuchsküchen einzurichten.
2011 war Schluss mit dem Rummel in der Bucht Cala Montjoi. Adrià lud 50 handverlesene Freunde und Mitarbeiter zur letzten Sause in diesem Hotspot ein. Es gab 50 Gänge, Joan Roca aus Girona, Grant Achatz aus Chicago, aus Kopenhagen und Massimo Bottura aus Modena kochten als Stargäste unter den „Ehemaligen“ mit. Ferran Adriàs Tusch am Schluss: ein sentimentales Schokoladen-Fondue mit Früchten, wie es das „El Bulli“ in den 80ern auf der Karte hatte.
Der „El Bulli“-Hype ging wie ein Lauffeuer um die Welt: Ins 50-Plätze-Lokal, fünf Mal zum angeblich besten Restaurant der Welt gekürt, fluteten bald jährlich bis zu zwei Millionen Reservierungsanfragen. Dabei war es nur sechs Monate im Jahr geöffnet und nur zum Abendessen. Gerade mal 8000 Bewerber kamen zum Zug. „Wir haben ein Monster geschaffen“, zog der damals 48-jährige Ferran Adrià in seiner Abschiedsrede an diesem 30. Juli 2011 Bilanz, „und es war an der Zeit, es zu bändigen.“ Sprach’s und zog dann am frühen Morgen die Restaurant-Tür hinter sich zu.
DIE LEGENDE „EL BULLI“
DAS LOKAL IN EINER EINSAMEN BUCHT bei Roses an der Costa Brava war nur über eine lange holprige Staubpiste zu erreichen. Einst gehörte es einem deutschen Ehepaar, das einen Minigolfplatz mit der Bar „El Bulli“ betrieb, benannt nach ihrer Bulldogge. Bald boten sie auch Essen an, von Gulasch bis Tortilla. 1983 kam der damals 21-jährige Ferran Adrià auf Empfehlung als Koch an Bord und bereitete bis 1993 eine frankophil-mediterrane Küche zu.
DANN FOLGTE ADRIÀS ÜBERDRUSS – er hungerte nach etwas Neuem, Unerhörtem. In den ersten Jahren goutierten zunächst nur wenige Gäste seine Experimente. 1996 kauften Adrià und sein Kompagnon Juli Soler das Lokal: dekorative Bodenfliesen, weiß verputzte Wände, dunkle Deckenbalken, unbequeme hochlehnige Stühle. Kontrast: die hochmoderne offene Küche.
DER WERDEGANG DES FERRAN ADRIÀ
FERRAN ADRIÀ ACOSTA WURDE AM 14. MAI 1962 IN EINEM VORORT VON BARCELONA GEBOREN. Als Schüler nahm er schon Jobs als Hilfskoch an. Beim Militärdienst war er Schiffskoch in Cartagena, in der Küchencrew des Flottenadmirals. Juli Soler, sein späterer Geschäftspartner, holte den 21-Jährigen ins „El Bulli“. Er schickte ihn zum Lernen u.a. aber auch zu Jacques Maximin nach Nizza. Eine reguläre Ausbildung zum Koch hat Ferran Adrià nie gemacht. Sein jüngerer und introvertierterer Bruder Albert Adrià arbeitete ab 1985 über 23 Jahre im „El Bulli“ mit, leitete später, als die Küche „techno-emotional“ wurde, mehr oder weniger „unentdeckt“ die Experimentierküche und hat großen Anteil an der Erfindung verblüffender, revolutionärer Gerichte. Heute führt er selbst mehrere Restaurants in Barcelona, u.a. „Enigma“ und „Tickets“. Das „El Bulli“, erweitert um einen Anbau, ist heute eine Stiftung, die „elBulli Foundation“, die Adrià als „Denkfabrik für kreative Gastronomie“ definiert. Adrià steht rund 30 Konzernen als Berater zur Verfügung, hat über 200 Köche-Symposien gerockt und weltweit Hunderte Gastvorträge gehalten. Amazon Prime Video hat aus 3000 Stunden Filmmaterial eine 15-teilige Doku geschaffen. Titel: „El Bulli – Die Geschichte eines Traums“. Sie war 2018 erstmals komplett zu sehen.