Die Vordenker – Massimo Bottura
Der Koch und seine Frau Lara Gilmore
Text: Madeleine Jakits
FRAGT MAN MASSIMO BOTTURA, wie er zu seiner Neuinterpretation der traditionellen und von vielen seiner Landsleute als denkmalgeschützt empfundenen „Hausfrauenküche“ Italiens gekommen ist, erzählt er die Geschichte vom Kunstsammler, der einen gefeierten zeitgenössischen Maler bedrängte, doch ein Porträt von ihm anzufertigen. Der Künstler nahm irgendwann den Auftrag an. Der Kunde saß Modell. Stunde um Stunde. Der Maler las derweil die Zeitung oder telefonierte. Als sein Modell immer unruhiger wurde, griff der Maler endlich zum Pinsel, nahm etwas Farbe auf und machte einen Klecks mitten auf die Leinwand und rief „Ihr Porträt ist fertig!“ Dem entgeisterten Mann sagt er: „Es ist Ihr Porträt. Aus zehn Kilometer Entfernung.“
Diese Geschichte gefällt Bottura, dem Schelm, weil sie zeigt, dass man mit ausreichend Abstand die Dinge meist ganz anders, ganz neu sieht. Mit ähnlich starkem Weitwinkel nimmt der Koch auch das kulinarische Erbe seiner Heimat wahr. „Tradition in Evolution“, wie er seine Herangehensweise nennt, ist ein Anstoß, doch mal darüber nachzudenken, ob man jahrhundertelang immer alles auf dieselbe Art zubereiten muss.
Unsterbliche Klassiker wie etwa die Tortellini in brodo, mit Fleisch gefüllte Nudeltäschchen in guter Brühe – eine Herzensangelegenheit in jeder italienischen Familie! –, wurden Botturas radikaler Modernisierung unterzogen. Er interpretierte die Leibspeise aufreizend anders und nannte sie „Tortellini, die über die Brühe laufen“ – genau sechs der winzigen Tortellini überqueren aufgereiht auf einem Teller so flach wie die Poebene einen mit Agar-Agar eingedickten Spiegel aus Kapaun-Brühe.
Die meisten Italiener sind stockkonservative Esser und vergleichen noch in den besten Lokalen ihres Landes die Qualität der Gerichte mit dem, was die Mutter daraus (anders) gemacht hätte. Die Mutter gewinnt bei diesen Vergleichen immer. Seine Ketzerei brachte Bottura höhnische Empörung und gehässige Kritiken ein. „Man hätte mich am liebsten auf der Piazza als Hexe verbrannt!“ Denn Tortellini in brodo – das muss doch mindestens ein sehr tiefer Teller sein, und zwar randvoll.
KINDHEITSERINNERUNGEN haben eine große Suggestivkraft, gerade wenn es ums Essen geht. „Ich bin eigentlich unter dem Küchentisch meiner Großmutter aufgewachsen, um meinen älteren Brüdern zu entkommen, meine nonna hat ihnen mit dem erhobenen Nudelholz gedroht – und ich habe ihr derweil die rohen Tortellini stibitzt“, so Bottura. Er sei ein spindeldürres Kind gewesen, zu hibbelig zum essen, immer auf dem Weg zum Fußballspielen. Seine Mutter sei morgens hinter ihm durch die Straße gerannt mit einem Mortadella-Brötchen in der Hand, damit der Hänfling nicht mit leerem Magen in der Schulbank hungerte.
Wäre es nach Botturas Vater gegangen, hätte Massimo Anwalt werden sollen. Das Studium: eher lustlos und vorzeitig abgebrochen. Ein Glück, dass er in sich den Wunsch verspürte, zu kochen – und seine Mutter ihn ermutigte, sich diesen Traum zu erfüllen.
ALS JUNGER MANN VON 25 JAHREN kaufte Massimo Bottura im Frühjahr 1986 also ein altes Lokal östlich von Modena auf dem platten Land: „Osteria del Campazzo“: Die Frauen in der Familie halfen aus, kochten ihre Traditionsgerichte, der Laden lief schon nach wenigen Monaten auf Hochtouren. Bottura, der Autodidakt, lernte an seinen freien Tagen die Grundfertigkeiten der französischen und italienischen Küche von einem befreundeten Profi.
Doch nach sieben Jahren hatte Bottura genug. Ließ alles stehen und liegen, flog im tiefen Winter nach New York, wo er in einem italienischen Café in der Küche aushalf – und seine spätere Frau Lara Gilmore kennenlernte. Nach neun Monaten, zurück in seiner Osteria, kam ein Anruf: Ein Aceto-balsamico-Hersteller reservierte für ein Mittagessen. Seine Begleitung: kein Geringerer als Alain Ducasse aus Paris! Nach dem Dessert stand die Einladung, für ein Jahr bei Ducasse im „Hôtel de Paris“ in Monte-Carlo zu arbeiten. Was für ein Sprung: aus der einfachen Trattoria im Nirgendwo der Poebene in ein mondänes Drei-Sterne-Imperium an der Côte d’Azur!
Dort, so Bottura, habe er 16 Stunden am Tag gearbeitet und alles gelernt, was ein begeisterter Koch über Grundfertigkeiten wissen muss. Seine Beobachtungen und Rezepte, die er dort übers Jahr aufgeschrieben hatte, zerriss Alain Ducasse vor seiner Nase und warf sie in den Müll. „Das brauchst du alles nicht. Du kannst jetzt auf eigenen Beinen stehen.“ Ducasse, sagt Bottura immer wieder, sei sein wichtigster Mentor gewesen.
„Osteria Francescana
ZURÜCK AUS MONTE-CARLO, ergab sich die Gelegenheit, in der Altstadt von Modena die „Osteria Francescana“ zu übernehmen, aus der Bottura ein radikal modernes Restaurant machte, optisch und kulinarisch. Mit an Bord: Lara Gilmore, die auf ihn gewartet hatte. Starke Triebfedern für Botturas Art, Essen vom Überkommenen zu abstrahieren und neu zu denken, wurden der Jazz und die zeitgenössische Kunst. Beide tragen ganz entscheidend auch zur Atmosphäre in der minimalistisch modernen „Osteria Francescana“ bei.
Sein Klassiker „Erinnerung an ein Mortadella-Brötchen“ war das Ergebnis. Bottura reduzierte das Wesentliche, den Geschmack dieser Erinnerung, auf eine Miniatur: Die Mortadella, mit einiger Tüftelei dekonstruiert und – durch den Siphon gedrückt – in neuer, fluffiger Konsistenz zum rosigen Häufchen mutiert, wird von einem getoasteten Würfel aus einem lokalen Fladenbrot begleitet, der Knoblauch und die Pistazien, die jede Mortadella enthält, liegen separat als krümelige Spur daneben.
Massimo Bottura hat in der „Osteria Francescana“ eigentlich das Storytelling in die italienische Gastronomie gebracht, das Geschichtenerzählen. Ohne die im Übrigen wohl mancher Gast, ob Italiener oder Besuch aus dem Ausland, ratlos wäre. Oder was würden Sie sagen, wenn man Ihnen ohne die Vorgeschichte ein Dessert hinstellte, das aussieht wie vom Boden aufgekehrt? „Oops! I dropped the Lemon Tart“ („Huch, ich habe das Zitronentörtchen fallen lassen“) ist längst ein Bottura-Evergreen. Der mutwillig unaufgeräumte Teller erinnert an ein Missgeschick in der Küche, das seitdem nachgestellt wird, mit zerbrochenem Teigboden und verspritzter Füllung: Aus etwas Zerstörtem entsteht Neues, und die ganze Kreation beschwört die Aromen Siziliens herauf mit Zitrone, Limoncello-Likör, Sternanis, Zimt, Wacholder, Pfeffer und Kardamom – und sogar Kapern.
„Es muss für mich als Koch zwischen all den Terminen des Alltags beim Steuerberater, bei der Bank und beim Arzt immer ein Raum bleiben für die Poesie. Du fühlst sie dann in dir“, hat Massimo Bottura einmal gesagt. Überlieferte Nationalgerichte nicht nostalgisch verklären, sondern kritisch betrachten – und dann das Beste daran neu und emotional in die Gegenwart übersetzen. Das, kann man sagen, ist der Schlüssel zu Botturas Küche.
Botturas kühnste Eingebung handelt vom Parmesankäse, einem nationalen Grundlebensmittel aus seiner Heimat, der Emilia. Der Koch hat sich eingehend mit der Herstellung und den verschiedenen Reifestufen des Käses beschäftigt. Daraus entstand schließlich ein Teller, auf dem 24-monatiger Parmesan zum Demisoufflé wurde, der 30-monatige zu einer opulenten Sauce, der 36-monatige kam als kalter Schaum aus dem Siphon, aus der Rinde des 40-monatigen Parmesans entstand die hauchdünne Waffel. Und aus geriebenem 50-monatigem Käse wurde eine „Luft“: „Fünf Reifestufen des Parmesans“ heißt das fertige Werk und spielt virtuos mit Texturen und Temperaturen und dem typischen Geschmack des Käses. Das Rezept besteht genau genommen aus nur einer Zutat: aus Parmesan. Nein, es gibt noch eine zweite: viel, viel Zeit!
TYPISCHES AUS 25 JAHREN BOTTURA
DREI EVERGREENS ZUM JUBILÄUM
- OOPS, I DROPPED THE LEMON TART: Ein Schock für die Gäste: ein zerborstenes Zitronentörtchen als Küchenunfall auf dem Teller zu inszenieren. Auch im Geschmack hat die Kreation etwas Explosives: die Aromenwucht Siziliens.
- FIVE AGES OF PARMIGIANO: Der „Nationalkäse“ der Italiener stammt aus Massimo Botturas Heimat., der sich für dieses faszinierende Gericht mit unterschiedlich lange gereiftem Parmesan beschäftigt hat. Ergebnis: ein Demisouflé, ein Schaum, eine Sauce, dazu eine Waffel und eine „Luft“ als Krönung – aus fünf Altersstufen von Parmesan.
- IN THE SKY WITHOUT LUCY: Natürlich hat Bottura an „Lucy In The Sky With Diamonds“ von den Beatles gedacht bei seinem psychedelisch anmutenden Dessert: gebratener Pfirsich mit Heidelbeersauce, Birkensirup, Rosmarineis, Rosenbaiser, Amaretti und blauer Zuckerwatte. Ein Trip in Multicolor.
DIE STATIONEN DES MASSIMO BOTTURA
GEBOREN 1962 IN MODENA, Sohn eines Erdölhändlers, der ihn gern als Anwalt gesehen hätte. Bottura startete als Autodidakt mit eigenem Lokal: 1986–1993 Patron der „Osteria del Campazzo“ östlich von Modena. 1993 neun Monate Auszeit in New York. Zurück in Modena, ist Alain Ducasse eines Tages sein Gast und bietet ihm ein Jahr Arbeit in Monte-Carlo im „Hôtel de Paris“ an. Nach seiner Rückkehr kauft Bottura 1995 die „Osteria Francescana“ in Modenas Altstadt. Hier beginnt seine Laufbahn als Avantgardekoch, stark geprägt von einem Sommer im Jahr 2000 in Restaurantküche im „El Bulli“ in Katalonien. Bottura gehört zu den Top Ten der Spitzenköche Italiens. Er ist verheiratet mit Lara Gilmore, einer New Yorker Kuratorin. Botturas Steckenpferd: Er produziert ausgezeichneten eigenen Aceto balsamico.
Massimo Bottura begann seine Karriere als Autodidakt, bevor er bei Alain Ducasse in Monte- Carlo im „Hôtel de Paris“ arbeitete. Nach seiner Rückkehr übernahm er 1995 die „Osteria Francescana“, in der er sich zum Avantgarde-Koch weiterentwickelte – stark inspiriert von einem Aufenthalt in Ferran Adriàs „El Bulli“. Mit stilbildenden Signature Dishes ist Bottura heute fest in der Topliga etabliert.