Die Vordenker – Pierre Gagnaire
Text: Patricia Bröhm
„ICH WEISS NICHT, was ich gegessen habe, ich weiß nur, dass es besser war als alles, was ich kenne“, so urteilt Paul Bocuse nach einem Besuch bei Pierre Gagnaire in Saint-Étienne. Der „Figaro“ beschreibt ihn als „hochbegabt und unklassifizierbar“, als „Verrückten am Herd“. Für „Libération“ ist er „der Verrückteste von allen“. Verrückt – diese Vokabel verwenden viele Kritiker, um eine Küche zu beschreiben, die anders ist als alles, was man im gelobten Land der Haute Cuisine bis dahin kannte. In den frühen 1990er-Jahren wagte ein junger Koch aus der Provinz das Undenkbare: Er macht sich frei vom klassischen Repertoire der Hochküche, sprengt die Fesseln der Tradition und geht voll auf Risiko.
Gagnaire versteht sich nicht als Koch, sondern als Künstler. Bald hat er seinen Spitznamen als „Picasso des Kochöffels“ weg: Wie ein Maler die Farben im Schaffensakt auf die Leinwand tupft, so ersinnt er überraschende Allianzen von Aromen und Texturen, nutzt die reiche Palette der Produkte, um fantasievolle Kompositionen zu schaffen. Ihm geht es nicht um Harmonien, sondern um Spannung, auch auf Kosten von Dissonanzen. Gagnaire liebt Jazz und die moderne Malerei, die ihn mehr inspirieren als die Arbeit seiner Kollegen. Einen prägenden Lehrmeister hat er nie, er erfindet sich selbst und ist die Verkörperung dessen, was man in Frankreich „Cuisine d’auteur“, Autorenküche, nennt.
Auf seinen Tellern treffen sich – vor mehr als 30 Jahren – Jakobsmuschel und Lakritze, Foie gras und die Jodigkeit von Austern, Aprikose und die ersten jungen Pfifferlinge des Sommers. Es sind Verbindungen, die gemäß dem klassischen Kanon als unpassend gelten, bei ihm aber Sinn(lichkeit) erfahren. Er folgt der freien Assoziation. Bestes Beispiel: sein berühmter Kopfsalat, gefüllt mit Krabbenfleisch an Zwiebelchen, glasiert mit einem Coulis von Johannisbeere und Sauerkirschsaft mit Chinarinde. Was nach purer Prätention klingt, gelingt ihm zu etwas Großartigem, weil die Krabbe nicht in dem Tsunami von säuerlichen Noten untergeht, sondern geschmacklich sogar davon profitiert.
“Pierre Gagnaire", Paris
ES IST BEZEICHNEND, dass der Querdenker den Beruf des Kochs nicht freiwillig wählt. Seine Eltern führen das kleine Restaurant „Clos Fleuri“ bei Saint-Étienne, vom ältesten Sohn wird erwartet, dass er in die Fußstapfen des Vaters tritt. Doch für den jungen Freigeist ist dessen Küche „ohne Lust, ohne Leidenschaft“. Er leistet sich kreative Ausbrüche, die ihm Ärger mit der Familie, aber die Aufmerksamkeit der Restaurantkritik einbringen. Mit 31 eröffnet er in Saint-Étienne sein eigenes Restaurant: „Pierre Gagnaire“.
Die 1980er- und frühen 1990er-Jahre, in denen er um einen persönlichen Stil ringt, bezeichnet er im Nachhinein als „totale Improvisation“. Er habe seinen Gästen damals einiges zugemutet. Aber er öffnet ihnen auch ein neues kulinarisches Universum, in totaler Opposition zur französischen Klassik. Als er das erste Mal nach Japan reist, ist er fasziniert von der Raffinesse und Delikatesse der dortigen Küche. Asiatische Einflüsse werden zu einer Konstante seiner Menüs, auch hier ist er Vorreiter. Anfang der 1990er-Jahre ist er auf dem Gipfel seiner Kreativität – und fühlt sich in seinem kleinen Restaurant eingeengt. Eine prachtvolle Art-déco-Villa im Herzen von Saint-Étienne wird sein neues Zuhause – 1000 Quadratmeter, davon ein Drittel Küche. Er verschuldet sich hoch, aber das opulente Ambiente beflügelt seine Küche und die Restaurantführer belohnen ihn reichlich, mit drei Michelin-Sternen und 19,5 Gault&Millau-Punkten.
WER VERSTEHEN WILL, was den groß gewachsenen, schlaksigen Mann mit der weißen Haarmähne, die er beim Reden immer wieder mit den Händen zurückstreicht, bis heute antreibt, der muss zurückgehen ins Jahr 1996, das schwärzeste Kapitel seines Lebens. Damals erlebt er die größte Tragödie, die einen Koch treffen kann, oder, wie er es formuliert: „Einen phänomenalen Arschtritt.“ Gagnaire muss Konkurs anmelden. Mit 45 Jahren verliert der Spitzenkoch alle Ehren, er muss Privatinsolvenz anmelden und seine Kreditkarte abgeben. Zwei Jahre lang lebt er von 600 Francs, die er Anfang jedes Monats in bar erhält. Eine grausame Demütigung für einen stolzen Mann, der mit seinem luxuriösen Restaurant hoch gepokert hatte und nicht ahnte, dass die schwere Wirtschaftskrise, die Frankreich ab 1992 erschütterte, gerade die alte Industriestadt Saint-Étienne hart treffen würde. Und so wird er auch als Unternehmer zum Vorreiter seiner Zunft: Er ist der erste Drei-Sterne-Koch, der mit Pauken und Trompeten pleitegeht.
Von nun an hat er nur ein Ziel: Der Welt zu beweisen, dass er an seine größten Erfolge anknüpfen kann. Ende November 1996 eröffnet er mit finanzieller Unterstützung seines Freundes Marc Veyrat und des Carrefour-Gründers Jacques Fournier sein neues Restaurant in der Rue Balzac. Es ist, als hätte Paris auf ihn gewartet – am ersten Tag bricht die Reservierungsleitung zusammen. Von da an ist das Restaurant ausgebucht, mittags und abends. 1997 kommt der zweite Stern zurück, 1998 der dritte. Nach zwei Jahren ist er zurück auf dem Gipfel und kann die Schulden abbezahlen.
Seine Speisenkarten lesen sich noch immer wie Romane. Er setzt sich ein Thema und erzählt alle Geschichten, die ihm dazu einfallen. Er benennt die Gerichte nach ihrem Hauptprodukt „Langoustine aus Guilvinec“ oder „Limousin-Kalb“, dann folgt eine Armada von Varianten und Nebendarstellern, von Gemüse und Früchten, Kräutern und seltenen Gewürzen. Ein Teller reicht nicht aus für so viel Einfallsreichtum, Gagnaire prägt das System der „Satellitenteller“, mehrerer kleiner Teller und Schüsselchen, die mit ergänzenden Zubereitungen rund um ein zentrales Gericht serviert werden.
SO TUMMELN SICH bei seiner Challans-Ente mehr als 150 einzelne Produkte, die in die komplexe Architektur des Gerichts mit sechs Zubereitungen eingewoben werden, von der Ballottine aus Keulenfleisch mit Pistazie über Pomeranze an Kirschsaft bis hin zur in diesem Kontext verblüffenden Variante eines von Sauerampfer-Cassis-Karamell umhüllten Thunfischs, der dem Gericht eine neue Dimension verleiht und manchen Gast ratlos zurücklässt. Doch der Meister lässt sich nicht greifen, nicht klassifizieren – ein andermal überrascht er mit einer Hommage an die Klassik wie Pot au Feu vom Ochsenschwanz oder mit einem seiner unübertroffenen Soufflés. Wie auch immer: Wer in der Rue Balzac essen geht, sollte dafür offen sein, dass etwas völlig anderes serviert wird, als die Speisenkarte erwarten lässt.
„La Grande Maison", Bordeaux
GAGNAIRES KÜCHE POLARISIERT unverändert. Auch auf unternehmerischem Gebiet ist er ein Ausnahmetalent. 2002 eröffnet er in London das Restaurant „Sketch“, danach geht es Schlag auf Schlag, von Dubai über Shanghai bis Las Vegas betreibt er Lokale, mal die ganz große Oper, mal französische Brasserie, mal italienische Wohlfühlküche. Sein Name wird zur Marke, auch wenn er nicht überall erfolgreich ist – der „Les Solistes“-Auftritt in Berlin dauert nur vier Jahre. Noch heute, mit 70, umfasst sein Imperium 17 Adressen. „Er sprüht noch immer vor Ideen“, sagt Vincent Moissonnier vom Kölner Restaurant „Le Moissonnier“, der Gagnaire seit über 30 Jahren kennt. „Er ist wie eine tickende Zeitbombe.“
DIE STATIONEN DES PIERRE GAGNAIRE
GEBOREN AM 9. APRIL 1950 in Apinac bei Saint-Étienne, lernt er auf Wunsch seiner Familie Koch, absolviert ein Sommerpraktikum bei Paul Bocuse und übernimmt nach verschiedenen Stationen (u. a. bei Alain Senderens) mit 26 das väterliche Restaurant. 1981 macht er sich mit seinem ersten eigenen Restaurant „Pierre Gagnaire“ in Saint-Étienne selbstständig; nach dem schmerzlichen Konkurs 1996 ist er seit 1998 in seinem gleichnamigen Stammhaus in der Pariser Rue Balzac wieder mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Heute führt er ein Gastro-Imperium mit 17 Restaurants und 14 Sternen weltweit.
Pierre Gagnaire
...ist berühmt für seine Soufflés.
TYPISCH GAGNAIRE: SIGNATURE DISHES
PARFUMS DE TERRE Das Parfum Terre d’Hermès mit seinen erdigen Noten inspirierte den Chef zu diesem Gericht, das er immer wieder neu durchdekliniert – etwa in der Version als Gänseleber mit Artischockencreme an Haselnussöl; Pasta mit Alba-Trüffel, Mont d’Or und Bortschsch; Consommé vom Ochsenschwanz mit gedämpfter Schwarzwurzel, Rosinen und Sauternes-Geleewürfeln; Kartoffel-Raviolo mit Melone und Tandoori vom Lammfuß.
SOUFFLÉ VANILLES D’ORIGINE Gagnaire ist bekannt für seine schlaraffesken Desserts, allen voran die Soufflés. Zum Thema Vanille dekliniert er verschiedene Herkunftsarten mit ihren aromatischen Nuancen durch – im eigentlichen Soufflé mit in Kirschwasser eingelegten Rosinen die aus Bora-Bora, im Parfait mit Kastanien die von der Südsee-insel Tahaa, im mit Zuckerrohrsirup marinierten Fruchtsalat aus Mango, Rambutan und Mangostan die Bourbon-Vanille. Dazu gibt’s ein Litschi-Sorbet mit Timut-Pfeffer und einen Madeira Bual 10 years.