Experimentelle Gastronomie in Amsterdam

Kunst oder Essen? Experimentelle Gastronomie in Amsterdam

Ein Experiment im Amsterdamer Gemeenlandshuis, das von der Initiative Steinbeisser ins Leben gerufen wurde, zeigt eindrucksvoll, dass Kunst beim Essen durchaus unseren Horizont erweitern kann – mit kuriosen Utensilien und koreanischer Tempelküche und Köchin Jeong Kwan Seunim.
Datum15.11.2022

Experimental Cuisine verbindet Essen mit Kunst

Die Tischnachbarin überlegt noch, wie sie mit ihren miteinander verwobenen Essstäbchen die frittierte Ginsengwurzel zu fassen bekommt. Man selbst versucht, ein Stück Lotuswurzel mit 70 Zentimeter langen Stäbchen in den Mund zu manövrieren. Was auf den ersten Blick skurril anmutet, nennt sich Experimental Cuisine und ist eine ungewöhnliche Dinner-Serie, erdacht von der Initiative Steinbeisser der Niederländer Gastronomen Martin Kullik und Jouw Wijnsma. 

Durch die Verbindung von Kunst und Essen stellen sie unsere Genussgewohnheiten infrage und wollen zum Nachdenken anregen. Wo Regeln und Gewohnheiten gebrochen werden und Kreativität gefordert ist, öffnen sich neue Perspektiven und Sichtweisen. Im Mittelpunkt der Inszenierungen an stets besonderen Orten stehen von Künstlern gestaltetes Besteck und Geschirr jenseits aller Normen sowie Köchepersönlichkeiten aus aller Welt. Tanja Grandits (Restaurant Stucki, Basel), Lukas Mraz (Mraz & Sohn, Wien) und Dominique Crenn aus New York waren schon beteiligt.

Die Köchin: Jeong Kwan Seunim

Die Gäste treffen im Amsterdamer Gemeenlandshuis, einem herrschaftlichen Gebäude von 1727, das früher Teil der Wasserbehörde war, auf die Köchin Jeong Kwan Seunim. Sie ist eine buddhistische Nonne aus Südkorea und eine bekannte Köchin, seit sie in der Netflix-Serie "Chef’s Table" eine eigene Folge hatte. Im Baekyangsa Tempel in den Bergen des Naejangsan-Nationalparks kocht sie für Nonnen und Mönche. Ein Coup allein, dass es Martin Kullik und Jouw Wijnsma gelang, sie nach Amsterdam zu holen.

In dem herrschaftlichen Saal mit hohen Decken, imposanten Kronleuchtern und knarzendem Parkett machen sich derweil die Teilnehmer unterschiedlichster Hintergründe bekannt. Die 65-jährige Jeong Kwan Seunim ist qua ihrer Aura schon eine derart imposante Persönlichkeit, dass Stille einkehrt, als sie den Raum betritt, dicht dahinter ihre Dolmetscherin. Sie weiß, dass Ehrfurcht nicht die beste Basis für Offenheit und Neugier sind, und bricht den Bann: "Heute Morgen regnete es noch, jetzt scheint die Sonne, und wir blicken aufs Wasser – hier möchte ich wohnen." Erleichtertes Lachen geht über in heitere Unbeschwertheit.

Über Jeong Kwan Seunim

Gut gelaunt und ohne Berührungsängste war die koreanische Köchin und Nonne Jeong Kwan Seunim

Die buddhistische Nonne wurde in Yeongju in Südkorea geboren, wo sie mit sieben Geschwistern auf einer Farm aufwuchs und schon früh wusste, dass sie in einem Kloster leben möchte. Seit sie 19 Jahre alt ist, lebt sie im Baekyangsa Tempel, pflegt dort den eigenen Gemüsegarten und kocht für andere Nonnen und Mönche. Weltweit bekannt wurde sie durch die Netflix-Serie "Chef’s Table", die 2017 ausgestrahlt und in der sie und ihre vegane Tempelküche porträtiert wurde.

Essen mit Kunstobjekten statt Geschirr und Besteck

17 verschiedene Künstler:innen engagierten Martin Kullik und Jouw Wijnsma für dieses Event. Sie sollten Besteck und Geschirr so gestalten, dass kein einziges gewohnte Nahrungsaufnahme möglich macht, sondern nur mit Geschick, Einfallsreichtum – und der Hilfe der Nachbarn in ihrem eigentlichen Sinne benutzt werden können. Löffel, die so lang sind, dass man sie mit dem Gegenüber teilen kann, oder ein Holzstab mit Kugeln an beiden Enden. Wie um Himmels Willen soll man damit essen? Aus Fragen werden Gespräche, werden Experimente, wird Gemeinsamkeit. 

"Das Essen soll Geist und Körper beruhigen, Energie geben, dabei nicht schwer sein und ganz wichtig: Das Essen soll geteilt werden", sagt die Übersetzerin. Für die Nonne geht es um das echte, das bewusste Teilen des Genusses an sich. Durch das ungewohnte Essbesteck und Geschirr teilt man noch mehr: die eigene Aufmerksamkeit und den gemeinsam bewusst erlebten Moment mit anderen. Und plötzlich erhält der Wert des realen Miteinanders, des geteilten Erlebens neue Bedeutung, erscheint die Gewohnheit des globalen "Teilens" in unseren sozialen Netzwerken der digitalen Welt plötzlich als eindimensional und einseitig.

Wenn Kunst in der Gemeinschaft den Genuss beflügelt

Nach und nach wird der experimentelle Ansatz erlebbar. Nichts wirkt hier albern, alle haben ähnliche Herausforderungen: Riesige Holzgabeln oder Stäbchen aus lackierten Zweigen inklusive deren Abzweigungen machen Essen zur Aufgabe, gelöst wird sie mit den Gäst:innen am Tisch. Die aus Korea mitgebrachten Stäbchen und Löffel gewohnter Natur bleiben unbeachtet. Der mit Tofu gefüllte Kürbis wird aufgespießt, mit verkohlten Stäbchen werden Geschmacksnoten auf der Tischdecke festgehalten. 

Teller gibt es nicht, man greift über den Tisch oder bekommt etwas gereicht – lange Stäbchen sind hier deutlich im Vorteil. Die seidige Pilzbrühe ist ein Highlight des Abends und eine Ausnahme: Jeder Gast bekommt eine eigene Schale, gefüllt mit einer Suppe aus getrockneten koreanischen Neungi-Pilzen. Das darin gegarte Wurzelgemüse ist ungeheuer intensiv. Wie ein Knallbonbon ergießt sich das Aroma süßer Karotten in den Mund. Der nächste Gang wird wieder geteilt. Auch wenn man sich nicht kennt, hier isst niemand für sich.

Die Atmosphäre ähnelt der eines lebhaften Stammtisches – es gibt ein Thema, und jeder hat etwas beizutragen. Zwischen Fremden wird es schnell freundschaftlich, Alkohol braucht es dafür nicht. Serviert wird ausschließlich Tee aus Europa. Martin Kullik und Jouw Wijnsma erleben ein weiteres Mal, wie ihre Idee ein Eigenleben entwickelt, wie Kunst in der Gemeinschaft den Genuss beflügelt und umgekehrt. Die Lotuswurzel schmeckte übrigens vorzüglich. Wie die Überführung mit den langen Stäbchen glückte? Versuchen Sie es doch einmal selbst!

Hier geht es zum Steinbeisser Programm!

Über das Projekt Steinbeisser

2009 gründeten Jouw Wijnsma und Martin Kullik Steinbeisser und starteten 2012 mit ihrer Idee von experimenteller Gastronomie. Zusammen mit bekannten Köchen und Köchinnen veranstalten sie Events, in denen sie hinterfragen, wie wir Essen zu uns nehmen. Verschiedene Künstler:innen gestalten dafür Besteck und Geschirr, die die Regeln von normaler Benutzbarkeit in Frage stellen. Das nächste Event ist für 2023 in Basel geplant.

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