Gastro-Analyse 2023: Gegen den Ein-Menü-Restaurant-Trend
„Die Menschen haben mehr denn je Spaß daran auszugehen, sich etwas Gutes zu tun.“ Markus Klaas, der kurz vor Weihnachten mit seinem Zwillingsbruder Tobias in München das „Brothers“ eröffnete, wurde öfter darauf angesprochen, wie mutig es sei, jetzt ein Restaurant aufzumachen. Mitten in Ukrainekrieg, Corona-Nachwehen und nie da gewesener Personalnot! Der 35-Jährige sieht das anders: „Wann, wenn nicht jetzt?“
Leuchttürme des Optimismus in krisengeschüttelter Gastronomiebranche
Tatsächlich keimt in der deutschen Topgastronomie an vielen Stellen wieder Zuversicht. In München starteten mit Jan Hartwigs „Jan“ (Foto oben) und dem „Brothers“ zum Jahresende gleich zwei hochkarätige Restaurants, in der Pfalz sorgt Benjamin Peifers neues „Intense“ für Aufsehen, Casual-Dining-Konzepte mit Anspruch wie „Puls“ in Köln oder „Dóttir“ in Berlin machen von sich reden.
Diese Leuchttürme des Optimismus tun der Branche, die wie wenige andere unter Corona litt, gut. Sie helfen, mit präsenten Problemen wie Personalmangel, gestiegenen Energiepreisen und Engpässen im Einkauf fertig zu werden. Alles bestens also? Das kommt auf den Blickwinkel an.
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Das Tasting-Menu-Konzept liegt im Trend – holt Gäste aber auf Dauer nicht ab
Viele Gastronom:innen waren in den vergangenen drei Jahren in erster Linie mit dem eigenen wirtschaftlichen Überleben beschäftigt. Jetzt aber wäre der Moment, sich um jene Gedanken zu machen, für die Restaurants ihre Türen öffnen – die Gäste. Sie waren nach dem Restart bereit, Veränderungen zu akzeptieren, die Gastronom:innen das Leben leichter machen: eingeschränkte Öffnungszeiten, reduzierte Angebote, Preiserhöhungen.
Heute sehen sie sich allerdings einer veränderten Gastronomieszene gegenüber, die so manchen nachdenklich stimmt: „Die moderne Konzeptgastronomie macht den Gast zum Teilnehmer, nicht zum Mittelpunkt“, schreibt ein FEINSCHMECKER-Leser. Und weiter: „Erfahrenen Gästen ist das nicht genug.“
Monatelang gleichbleibende Degustationsmenüs schaffen wenig Anreiz zum Wiederkommen
Tatsächlich wird die deutsche Fine-Dining-Szene derzeit – Ausnahmen bestätigen die Regel – von einem bestimmten Typus dominiert: dem Ein-Menü-Restaurant, das nur noch vier Abende die Woche öffnet. Auf High-End-Level, wo der Restaurantbesuch zum abendfüllenden Erlebnis analog einer Opern- oder Theateraufführung wird, ist das durchaus stimmig. Aber sollen wir in Zukunft nur noch so essen gehen?
Einiges spricht dafür, dass die gesamte gehobene Gastronomie gerade dabei ist, sich dauerhaft mit dem abendlichen Tasting-Menu-Konzept einzurichten. Aus Gästesicht definitiv eine Verarmung der gastronomischen Kultur. Klar, das Degustationsmenü ist kalkulatorisch und von der Küchenplanung her der Traum jedes Gastronomen und jeder Gastronomin. Aber wenn die Menüs, wie so oft, monatelang quasi unverändert gefahren werden – wo bleibt für den Gast der Anreiz, öfter als ein-, zweimal im Jahr zu reservieren? Stammgäste gewinnt man so nicht, die schätzen flexiblere Angebote. Ein weiteres Manko des Ein-Menü-Konzepts: Fast überall gibt es die gleichen, gerade saisonal günstig verfügbaren Produkte – das macht die Angebote austauschbar. Und dass immer weniger Gäste vier Stunden und zehn Gänge lang zu Tisch sitzen möchten, zeigt auch die Tatsache, dass selbst in international gehypten Berliner Konzeptrestaurants immer öfter Plätze frei bleiben.
Im "Brothers" steht der Gast im Mittelpunkt
„Bei uns gibt es keinen Menüzwang“, sagt Markus Klaas, Gäste können im „Brothers“ auch à la carte wählen. „Wir setzen eher auf das Gesamterlebnis“, so der Jungunternehmer. Wichtige Faktoren sind für ihn neben Küche und Service auf Topniveau auch die Lichtstimmung, eine sorgfältig kuratierte Playlist und insgesamt eine „fast clubbige Atmosphäre“. An der Eingangstür des Lokals hängt eine kleine silberne Tafel: „Welcome to the family“. Ein Detail, das Bände spricht – hier steht der Gast im Mittelpunkt des Geschehens. Und das junge Team um die Klaas-Zwillinge hat sich viele Gedanken gemacht, wie man ihm einen möglichst schönen Abend bereitet. Dazu zählt auch, dass Daniel Bodamer in der Küche auf exzellente Produkte und hochkarätiges Handwerk setzt – aber nicht auf überdekorierte Teller der Pinzettenkunst, die in der Küche unnötig Personal binden.
Neue und lebendige Erfolgskonzepte von Berlin bis München
Auch in der jungen Berliner Szene hat man begriffen, dass für viele Gäste beim Restaurantbesuch zunehmend der Wohlfühlfaktor zählt. Im „Otto“, im „Barra“ oder „Ezsra“ entscheidet der Gast, ob er zwei oder fünf Gänge essen möchte, leistet sich dafür aber vielleicht eine richtig gute Flasche Wein. Und: Die Tische werden oft zweimal pro Abend belegt, wie es in London, New York und anderen internationalen Metropolen längst Usus ist. Auch so kann man als Gastronom auf seine Kosten kommen – und dabei zu einer lebendigeren Szene beitragen. Apropos lebendig: Kann es sein, dass in der deutschen Hauptstadt genau ein Restaurant, das „Facil“, auf Topniveau unter der Woche mittags öffnet? Michael Kempf lässt seine Lunchgäste sogar wählen: großes Menü oder à la carte.
Auch andernorts beleben engagierte Gastronomen das oft totgesagte Mittagsgeschäft wieder – die Nachfrage ist da. In München bieten sowohl Jan Hartwig als auch das „Tantris“ mittags das große Menü an, in den Baiersbronner Ikonen „Bareiss“ und „Schwarzwaldstube“ sind die Tische von jeher auch zum Lunch begehrt. Nils Henkel setzt im Bingener „Papa Rhein“ auf großzügige À-la-carte-Auswahl für Mittagsgäste: „Für mich ist das ein Stück weit Visitenkarte.“ Da gibt er richtig Gas und serviert zum Beispiel Zander, auf den Punkt gebraten, mit Kräutergraupen und zweimal Rotwein, einmal als tiefgründige Jus, einmal als Emulsion. Dazu gibt’s, auf getrenntem Tellerchen, knusprig gebackenen Kalbskopf. Und jeden ersten Samstag im Monat bekocht er mittags bis zu zwölf Gäste an einem Tisch direkt am Pass mit Blick in die Küche. Ein Chef’s Table, um 12.30 Uhr, am Mittelrhein. Das ist so herrlich gegen den Trend, bitte mehr solche Ideen!