Individuelle Schaumweine
Text: Patricia Bröhm
Das alte Haus an der Place Baranim Winzerdorf Ambonnay südlich von Reims sieht mit den hölzernen Klappläden und den roten Geranien vor den Fenstern urgemütlich aus, im Hof parkt ein himmelblauer 2CV-Lieferwagen, Baujahr 1974. Fehlt nur noch, dass ein betagter Herr mit Baskenmütze auf der Bank vor dem Haus säße. Doch weit gefehlt: Hier wohnt ein junger Querdenker; das Weingut, das er in fünfter Generation führt, hat er gründlich umgekrempelt. Benoît Marguet macht so ziemlich alles anders als die Generation seiner Eltern. Chemie verbannte er aus seinen Weinbergen, er beugt Schädlingen und Krankheiten lieber mit Milch, Bienenharz oder einem Extrakt aus Grapefruitkernen vor. Auch den Traktor schaffte er ab, alle Arbeiten zwischen den Rebzeilen verrichtet er mit seinen Pferden Tristan und Urban. „Die Böden sind unser größtes Kapital“, sagt er, „Pferdehufe verletzen sie nicht.“ Der Öko-Rebell aus Ambonnay zählt zu jenen jungen Winzern, die in der Champagne seit einigen Jahren Aufsehen erregen. Den Markenprodukten der großen Häuser setzen sie ein ganz neues Weinprofil entgegen: Winzerchampagner mit Persönlichkeit. Zu den Pionieren, die vormachten, dass jenseits der Platzhirsche eine andere, faszinierende Weinwelt liegt, zählten Häuser wie Jacques Selosse, Egly-Ouriet oder Jacquesson. Von den rund 15 000 Winzern der Champagne baut jeder dritte heute seine Weine selbst aus und vermarktet sie unter eigenem Namen. Immer mehr Produzenten entscheiden sich dabei für biologische oder biodynamische Methoden – auch wenn die eigene Familie nicht mitzieht.
Der Öko-Rebell aus Ambonnay zählt zu jenen jungen Winzern, die in der Champagne seit einigen Jahren Aufsehen erregen
Benoît Marguets Eltern waren misstrauisch, als er 2009 das Gut auf biodynamischen Anbau umstellte. Er wollte „auf die Natur hören, statt ihr meinen Willen aufzuzwingen“. Im Herbst, wenn die Zeit der Lese kommt, geht er täglich frühmorgens in die Weinberge, um sich in die Reben „einzufühlen“. Den Erntezeitpunkt bestimmt er nicht mit technischen Mitteln, sondern intuitiv: „Ich betrachte meine Reben als lebendige Wesen, mit denen man kommunizieren kann.“ Die skeptischen Eltern machten zur Bedingung, zwei Hektar Grand-Cru-Lagen in Ambonnay und Bouzy, die zum Besten zählen, was die Champagne bietet, an Krug zu verpachten, als Lebensversicherung sozusagen. Der Sohn aber ist überzeugt, dem prächtigen Terroir mit seinen Methoden am besten gerecht zu werden, und seine Weine bestätigen ihn. Sie wirken lebendig, von großer innerer Harmonie. Der Blanc de Noirs aus 100 Prozent Pinot noir hat Kraft und Finesse, es ist ein Champagner von extremer Reinheit, ohne jede Schwere und mit allerfeinster Perlage, auch das ein Markenzeichen der Marguet-Weine. Im Keller baut Marguet die Weine nach Parzellen aus, er verzichtet auf Reinzuchthefen und auch weitgehend auf Sulfite. So entstehen Champagner, die den Charakter ihrer großartigen Lagen unverfälscht zum Ausdruck bringen wie der Les Bermonts aus 1952 gepflanzten Chardonnay-Reben, ein Wein von enormer Spannung und Subtilität, oder der sehr präzise „Elements“, eine fruchtig-mineralische Cuvée aus Pinot noir und Chardonnay. Es ist ein ganz neuer, oft mutiger Stil, der da aus der so traditionsreichen Champagne kommt und sich auch in Deutschland einen festen Platz auf guten Weinkarten und im Sortiment engagierter Händler erobert hat. Die jungen Winzer machen es sich nicht leicht, denn zu den ideologischen Barrieren kommen finanzielle: Ein Hektar Weinberg kostet heute im grünen Hügelland um Reims ab eine Million Euro, in begehrten Grand-Cru-Lagen wie Bouzy bis zu zwei Millionen. Das ist einer der Gründe dafür, dass seit ein paar Jahren Winzerchampagner von der Côte des Bar im Departement Aube einen Aufschwung erleben – dort ist Rebland noch erschwinglicher.
Der Blanc de Noirs aus 100 Prozent Pinot noir hat Kraft und Finesse, es ist ein Champagner von extremer Reinheit
Rund um das Städtchen Troyes, anderthalb Autostunden südlich von Reims, sieht es anders aus als in der klassischen Champagner-Region, wo der perlende Wein schon seit Generationen Wohlstand beschert. Die Dörfer wirken karger, stattliche Champagner-Residenzen wie in Ay, Mesnil-sur- Oger oder Avize fehlen. An der Straße liegen Rapsfelder und Weiden mit friedlich grasenden Kühen, hier zeigt die Champagne ihr bäuerliches Gesicht. Erst seit 1924 gehört die Aube offiziell dazu, traditionell lieferten die kleinen Familienbetriebe ihre Trauben an die großen Häuser weiter nördlich. Doch wo die junge Generation ans Ruder kommt, wird oft entschieden: Wir bauen unsere Weine jetzt selbst aus. Charles Dufour kommt mit einer guten Stunde Verspätung zum verabredeten Termin in Landreville. „Désolé“, entschuldigt er sich, dringende Arbeiten im Weinberg. Der 32-Jährige, ein kleiner, temperamentvoller Mann mit dunklem Vollbart, ist eine vinologische One-Man-Show, nur ein Helfer geht ihm bei der Arbeit in den Reben zur Hand. Dufour startete ohne Kredit von der Bank, ohne eigene Kunden, als er 2010 die Weinberge seiner Eltern übernahm, die bis dahin alle Trauben an einen négociant, einen Händler, verkauften.
Der bekannteste Champagner des Newcomers heißt Bulles de Comptoir, man schenkt ihn unter anderem im Hamburger Hotel „Louis C. Jacob“ aus. Das fröhliche Strichmännchen, das seine Etiketten ziert, hat Dufour selbst gezeichnet. Der unprätentiöse Auftritt ist gewollt und soll sich vom Pomp der großen Häuser absetzen „Die klassische Champagner-Region um Épernay“, sagt Dufour, „das ist für uns wie eine andere Welt.“ Das beginnt bei den Böden: Die für die Champagne so prägende Kreide findet man an der Côte des Bar nicht, Lehm und Kalkstein herrschen vor und geben den Weinen Kraft. Weiter geht es ins nahe Winzerdorf Polisot. Wie ihr Kollege Dufour ist Dominique Moreau völlig ohne Allüren, ihre Haare sind streichholzkurz geschnitten, die blauen Augen hellwach. Obwohl selbstbewusste Damen wie Lily Bollinger oder die Witwe Clicquot die Champagne geprägt haben, sind Winzerinnen immer noch die Ausnahme. Seit ihrem 18. Lebensjahr arbeitete Dominique Moreau im Weingut ihres Mannes mit; als sich Ende 2000 die Chance bot, 2,5 Hektar von einem Nachbarn zu übernehmen, griff sie zu. Ihre Champagner produziert sie unter dem Label Marie Courtin, dem Namen ihrer Urgroßmutter, einer zupackenden Frau, die schon in den 1920er- Jahren eigenen Wein kelterte. Auch die Urenkelin ist so agil, dass es ihr schwerfällt, länger auf einem Stuhl sitzen zu bleiben. Lieber zeigt sie uns ihre Reben am Dorfrand, eine grüne Idylle. Am Fuß des Weinbergs fließt Wasser, aquamarinblau zwischen dichten Weiden: die Seine, die hier noch kein majestätischer Strom ist, sondern ein besserer Bach. Zwischen den Rebstöcken wachsen Kräuter und Wiesenblumen, Bienen und Schmetterlinge umschwirren das Weinlaub. „Neulich habe ich sogar eine Kröte gesehen“, lächelt Dominique Moreau, „das habe ich als Kompliment genommen.“ Ihre Rebberge seien regelrecht zu neuem Leben erwacht, seit sie 2004 auf biodynamischen Anbau umgestellt habe.
Bei Sommeliers der gehobenen Gastronomie sind die Champagner der Côte des Bar beliebt wegen ihrer Mineralität
Auch in den Weinen schmeckte sie bald eine Veränderung. Die Chardonnay zeigten eine neue salzige Note, die Pinot noir wurden luftiger, floraler, aber auch komplexer in der Aromatik. Der „Concordance“, ein reiner Pinot-noir-Champagner, duftet nach Pflaumen und Mirabellen. Dank seiner Fruchtigkeit brauchte er nicht die übliche Dosage, den Zusatz von Zucker, und blieb auch sonst unverfälscht: Kein Schwefel, keine Reinzuchthefe hat seinen Charakter mitbestimmt. Bei Sommeliers der gehobenen Gastronomie sind die Champagner der Côte des Bar beliebt wegen ihrer Mineralität und ihres oft weinigen Charakters, der sie zu idealen Speisebegleitern macht. Trotzdem, sagt Olivier Horiot vom gleichnamigen Gut in Les Riceys im äußersten Süden der Region, täten sich Frankreichs Spitzenlokale mit Winzerchampagnern schwer. „In vielen Köpfen“, sagt der 40-Jährige, „herrscht immer noch die Meinung vor, ein Top-Restaurant müsse die großen Marken führen.“ In Deutschland oder Skandinavien sei man da viel offener: „Manchmal muss der Erfolg über das Ausland kommen.“ Nicht nur an der Côte des Bar, auch in klassischen Regionen wie der Côte des Blancs und der Montagne de Reims hat sich die Szene der Winzerchampagner in den vergangenen fünf Jahren schwungvoll entwickelt. Immer im April organisieren Winzergruppen wie Terres et Vins de Champagne, Les Mains du Terroir oder Trait d’Union sogenannte Salons, große Verkostungen in Reims und Épernay, wo die jungen Winzer persönlich ihre Weine ausschenken. Eric und Isabelle Coulon aus Vrigny bieten im „Le Clos des Terres Soudées“ sogar ein Bed & Breakfast mit Anspruch an, dessen Gäste an der Privatbar die hauseigenen Weine genießen können. Die sind durchweg elegant und zurückhaltend, im Alkohol wie in der Perlage.
„Champagner“, sagt er, „das ist ein Wort voller Mythos, das die Menschen zum Träumen bringt
Agrapart, Benoît Lahaye, Larmendier- Bernier, Jacques Lassaigne, Georges Laval, David Léclapart oder Tarlant, das sind nur einige von vielen Namen, die man sich merken sollte, weil sie für ein anderes, eigenwilliges Champagnerprofil stehen. Manch einer zahlt einen hohen persönlichen Preis dafür, seine Überzeugungen in Weinberg und Keller durchzusetzen. So musste der 27-jährige Jean-Marc Sélèque vom gleichnamigen Label für den Entschluss, seine Rebflächen südlich von Épernay biologisch zu bewirtschaften, eine Spaltung der Familie in Kauf nehmen – seine Cousine verkauft ihren Anteil an der Produktion seither unter dem Namen Jean Sélèque an eine Genossenschaft. „Vins d’auteur“, Autorenweine, nennt Eric Rodez die neue Generation von Winzerchampagnern. „Champagner“, sagt er, „das ist ein Wort voller Mythos, das die Menschen zum Träumen bringt. Wir Winzer sind Erben einer großen Vergangenheit, aber wir tragen auch eine große Verantwortung.“ Wenn man dem begnadeten Rhetoriker zuhört, wundert man sich nicht, dass die Winzer von Ambonnay ihn zu ihrem Bürgermeister gewählt haben. Besucher führt der Mann mit dem markanten Kahlschädel und der blau fluores- zierenden Brille gern zu seinem Weinberg Les Secs oberhalb des Ortes; Löwenzahn und andere Blumen zwischen den Reben zeugen davon, dass dieser Boden seit Jahren keine Chemie ertragen musste. „Die Terroirs der Champagne sind wie noble Musikinstrumente“, sagt Rodez, „aber man muss sie zu spielen verstehen. Das Terroir von Ambonnay ist eine Stradivari.“ Im September hat er, der einst im Hause Krug die hohe Kunst der Assemblage, des Verschnitts verschiedener Weine, verinnerlichte, erstmals zwei Weine auf den Markt gebracht, die nach Parzellen ausgebaut sind, Les Beurys und Les Jenettes. Im Grunde sei das „Anti-Champagner“, sagt er: „Mit der Assemblage kann man immer korrigieren, auch kaschieren. Ein Lagenchampagner aber zeigt unverfälscht, wie viel Arbeit sich der Winzer im Weinberg gemacht hat, er ist der pure Ausdruck des Terroirs.“ Genau darin liegt wohl die große Stärke der neuen Winzerchampagner: Sie können sich die Eigenwilligkeit leisten.
Bio in der Champagne
Nur etwa ein Prozent der Winzer in der Champagne arbeiten biologisch oder biodynamisch, mit steigender Tendenz – dazu gehören vor allem Produzenten von Winzerchampagner. Aber auch Häuser wie Roederer experimentieren auf ausgewählten Rebflächen. Am weitesten geht die biodynamische Anbauweise nach Rudolf Steiner, die komplett auf chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel, Herbizide und Kunstdünger verzichtet; dafür steht die Zertifizierung durch Deme- ter, Biodyvin oder Ecocert. In der Champagne ist oft auch die Rede von „lutte raisonnée“ – ein Schlagwort für naturnahe Anbaumethoden, das aber nicht gesetzlich geregelt ist und Chemie nicht ausschließt.