Viviana Varese im Porträt | DER FEINSCHMECKER

Viviana Varese im Porträt: Von der Pizzabäckerin zur Sterneköchin

Viviana Varese setzt als erfolgreiche und couragierte Küchenchefin in Mailand und auf Sizilien Maßstäbe: Sie engagiert sich gegen Diskriminierung und für Diversität und gibt Minderheiten Chancen – von Flüchtlingen bis zu ehemaligen Drogenabhängigen
Datum06.07.2022

Wo kommt Viviana Varese her?

Die Karten, sagen sie in Italien, waren nicht zu ihrem Vorteil gemischt. Gerade hier, in diesem so wunderbaren, aber auch so rigide katholischen Land. Viviana Varese fasst es schonungslos zusammen: „Frau, übergewichtig, homosexuell und aus dem tiefsten Süden stammend.“ Da wird man nicht überall mit offenen Armen empfangen.

Viviana Varese stammt von der Amalfiküste und kam mit ihren Eltern nach Mailand, als sie sieben war. Mamma und Papà eröffneten eine Pizzeria, sie musste mithelfen: Mit 13 Jahren wurde Viviana die verantwortliche Pizzabäckerin. Und wog 125 Kilo. Schwer vorzustellen, was das für ein Mädchen bedeutete, das ohnehin schon Außenseiterin war: nicht nur zugereist, sondern auch noch aus Kampanien. „Terrona“, lautet im Norden das hässliche Wort für Emigranten aus dem Süden, ganz frei übersetzt: „Erdfresser“. Und dazu die Entdeckung, dass Viviana Frauen mochte – wo sollte das alles hinführen? „Ich war nie in der Disco, ging nie auf einen Aperitivo aus“, sagt sie. „Ich war trotzdem glücklich. Aber ich hatte keine Wahl: Ich wollte es der Welt zeigen – meine Motivation!“

Wie hat es Viviana Varese in der Küche nach ganz oben geschafft?

Eine Frau hat es in der gehobenen Gastronomie bis heute nicht einfach, zu Beginn ihrer Karriere erst recht nicht. Kaum ein Küchenchef wollte sie aufnehmen. Bei Gualtiero Marchesi, einem Macho ganz alter Schule, war sie bei 20 Männern nur eine von zwei Köchinnen, die andere war – natürlich – eine Patissière. Und: Sie musste für ihr Praktikum im Jahr 1995 bezahlen, eine Million Lire, damals etwa eintausend deutsche Mark. „Marchesi mochte, was ich tat“, erzählt sie, „also durfte ich drei Monate länger bleiben. Ohne zu bezahlen, aber auch unbezahlt. Die Alta Cucina ist eine männliche Welt. Sie ist rau und militärisch organisiert. Als Frau hast du kaum eine Chance.“
 
Ihr Aha-Erlebnis hatte sie in Spanien im El Celler de Can Roca: „Eine großartige Küche, klar, aber auch Köche, die mir mit viel Lust und Offenheit ihre Tricks beibrachten“, schwärmt Viviana. „Die Brüder behandelten alle Mitarbeiter gut. Die Geheimniskrämerei der italienischen und französischen Küche war ihnen völlig fremd, auch die Hierarchien waren weniger streng. Das hat mich bis heute geprägt. Genau so eine Köchin wollte ich auch werden.“

Jakobsmuscheln, Pasta mit Kürbis gefüllt und gedämpfte Pizza von Viviana Varese.

Viva Viviana Varese: Ihr Guide Michelin Restaurant in Mailand

Viviana stürzte sich ins Abenteuer, eröffnete zunächst das „Il Girasole“ in Mailand, dann leitete sie mit ihrer damaligen Lebenspartnerin Sandra Ciciriello das Restaurant Alice. Der Name „Alice“ sollte die Weiblichkeit des Ortes betonen und an die Sardelle erinnern, aber vor allem hat Viviana an „Alice im Wunderland“ gedacht. Hier sollte man verzaubert werden, ohne es anschließend auf der Rechnung zu bereuen.

Die großen Gourmetauszeichnungen kamen schnell. Und Viviana Varese blieb ihrer Linie treu, behandelte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut – und gab auch jenen eine Chance, die es sonst schwer hatten. 2019 eröffnete sie das Sternerestaurant Viva Viviana Varese im Mailänder Eataly-Store – ein Wortspiel, bildet das „Viva“ doch auch die Anfangsbuchstaben ihres Namens. Und je selbstbewusster sie wurde, desto lauter setzte sie ihre Stimme gegen jede Art von Diskriminierung ein, beschäftigt beispielsweise auch Flüchtlinge. Inzwischen ist das Viva Viviana Varese im 2022 Guide MICHELIN Italien.

Viviana Varese

Viviana Varese
Name: Viviana Varese
Alter: 47 Jahre
Stationen: Geboren in Maiori, Amalfiküste, begann als Pizzabäckerin im Restaurant ihrer Eltern, die mit ihr in die Provinz Lodi bei Mailand auswanderten. Sie wollte nie etwas anderes, als sich in der Gastronomie zu beweisen; für eine Frau kein leichtes Ziel, selbst Praktika waren schwer zu bekommen.
Wichtigste Stationen: Gualtiero Marchesis Restaurant im Hotel L’Albereta und „El Celler de Can Roca“ im katalanischen Girona.
Mitarbeiter: 20 „jeder Hautfarbe, jeder Religion, jeder sexuellen Ausrichtung – wir sind eine ganz bunte Mischung“.
Das Restaurant: „Viva Viviana Varese“ liegt im „Eataly Smeralda“-Store im Nordwesten von Mailand, etwas außerhalb des Stadtzentrums, nicht weit vom Hauptbahnhof.
Privat: Mit ihrer Partnerin und Bulldogge Otto, gerettet aus einem Hundeasyl, liebt sie ausgedehnte Spaziergänge.
 
Viva Viviana Varese
Eataly Milano Smeraldo
Piazza XXV Aprile 10, IT-20121 Mailand
Tel. 0039-02 49 49 73 40
Di-Sa mittags und abends geöffnet, Menüs € 55-130

Das Viva Viviana Varese in Zeiten von Corona

Ihre Küche sei „ein Labor der Inklusion“, schrieb eine italienische Journalistin. Doch dann kam eine Herausforderung, mit der wirklich niemand rechnen konnte: Mit frisch restauriertem Restaurant und drückenden Bankschulden musste sie in den knüppelharten italienischen Corona-Lockdown und das „Viva“ monatelang zusperren. Und hatte viel Zeit, nachzudenken. Nur einmal hatte sie im Corona-Lockdown aufgemacht, zu Ostern. Sie war ganz allein in der Küche, hatte ihre Angestellten daheimgelassen. Und bekam 200 Essensbestellungen à drei Gänge zum Mitnehmen. Sie schuftete von sechs Uhr morgens bis nach Mitternacht. Doch auch das war eine Erfahrung, ein Stürzen in harte körperliche Arbeit, bei der ganz wie von selbst neue Ideen kommen.

Was lernt Viviana Varese aus der Krise?

Ein bisschen hatte es sich ja schon vor dem Virus abgezeichnet, dass die Spitzenküche hier und da neue Wege gehen muss. Dass es eine Rückbesinnung geben müsse, hin zu besserem Umgang mit Ressourcen – und Menschen. Was bei so manchen Protagonisten ein Lippenbekenntnis blieb, wurde bei Viviana Varese nach Corona Programm: Sie reduzierte die Karte von 24 auf 12 Gerichte, die Preise eines Menüs um fast die Hälfte. Ihre neue Einfachheit wird deutlich beim klassischen italienischen Gericht „Pasta e patata“ mit geräucherten Kartoffeln, Pistazienpesto und Basilikum. Oder ihrer köstlichen Pasta „Insuperabile“ („unübertrefflich“): Spaghetti in Fischbrühe mit Calamari, Venusmuscheln und Tarallo-Krumen (apulische Gebäckkringel). Extravaganzen wie ihr berühmtes Zahnbrassen-Carpaccio, bildhübsch mit allerlei exotischen Früchten garniert, bietet sie heute nicht mehr an.

Appetit bekommen? Hier sind fünf leichte Pasta-Rezepte für den Sommer!

Viviana Varese geht als Sterneköchin neue Wege

Sterneköchin Viviana Varese im Viva Viviana Varese mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. 
„Wir müssen zurück zu den Pfannen“, sagt Masterchef Viviana Varese. „Weg vom Plastik, weg vom Vakuumierer!“ Die Herausforderung sei es, avantgardistisch zu sein, jedoch mit traditionellen Mitteln. „Ein Weinkeller mit 800 Etiketten ist nicht mehr zeitgemäß, und ein Kellner, der nur fürs Wassernachschenken da ist, auch nicht – und das sagt dir eine, die immer alle Sterne wollte!“ Ihr neues egalitäres Küchenkonzept sieht sogar vor, dass turnusmäßig jede Köchin und jeder Koch einmal mit dem Abwasch dran ist, sie selbst natürlich auch. Wir hätten zu gern gesehen, welches Gesicht der selige Gualtiero Marchesi gemacht hätte, wenn er davon gehört hätte.

Viviana Vareses Mailand-Tipps

Tipografia Alimentare 

Via Dolomiti 1
Tel. 0039- 02 83 53 78 68
www.tipografiaalimentare.it
Mo, Mi, Do ab 11 Uhr, Fr, Sa, So ab 9 Uhr geöffnet, Gerichte € 6-15
„Mein neues Lieblingslokal. Ein Bistro mit ausgesuchten Nischenprodukten aus ganz Italien. Inspirierende Einrichtung, Leseecke, einfach ein idealer Treffpunkt!“

Contraste 

Via Meda 2
Tel. 0039-02 49 53 65 97
www.contrastemilano.it
Mo-Sa abends, So mittags geöffnet, Menüs € 120-150
Wenn ich einen FineDining-Abend verbringe, dann am liebsten bei Matias Perdomo – er ist sehr kreativ, ohne je den Geschmack aus den Augen zu verlieren.“

Sissi

Piazza Risorgimento 6
Mo 6.30-12 Uhr, Mi-So 6.30-20 Uhr geöffnet
„Diese Pasticceria ist wunderbar. Manchmal holen wir dort Brioches für die ganze Brigade. Dann ist schon am Morgen Stimmung in der Küche!“

Zu Gast bei Viviana Varese

Viva Viviana Varese
I N R Q

Viviana Varese setzt sich gegen Diskriminierung ein: am Herd, im Saal und überall sonst. In ihrem Restaurant arbeiten 20 Mitarbeiter jeder Hautfarbe, jeder Religion und jeder sexuellen Ausrichtung. Nach Corona reduzierte sie in ihrem frisch eröffneten Restaurant die Karte von 24 auf 12 Gerichte, die Preise eines Menüs um fast die Hälfte. Und praktiziert eine neue Einfachheit – „zurück zu den Pfannen, weg vom Vakuumierer“ – , etwa bei Pasta e Patata mit geräucherten Kartoffeln und Pistazienpesto.

Piazza XXV Aprile 10, 20121 Mailand, IT
+39 249 497340
vivavivianavarese.it
Di-Sa mittags und abends geöffnet
Menüs € 55 - 130

Die FEINSCHMECKER-Bewertungskriterien

In jeder Hinsicht perfekt
Küche und Service herausragend, Ambiente und Komfort außergewöhnlich
Exzellente Küche, sehr guter Service, Komfort und Ambiente bemerkenswert
Sehr gute Küche, guter Service, angenehmes Ambiente, komfortabel
Gute Küche, ansprechendes Ambiente
Solide Küche, sympathisches Lokal
Bewertung ausgesetzt
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