Pinova statt Pinot Noir
Handverlesen, sortenrein, komplex: Der Südtiroler Thomas Kohl keltert seine Apfelsäfte so detailverliebt wie einen Spitzenwein. Und das auf 1000 Metern!
1000 Meter über dem Meer
Der edelste Tropfen steckt in der Magnum. Ein Saft aus Wintercalville, einer bereits im Mittelalter kultivierten Apfelsorte. Im 19. Jahrhundert war ein Exemplar so teuer wie sechs Kilo Kartoffeln. In Meran wurden sie, in Seidenpapier eingewickelt, bis an den St. Petersburger Zarenhof gebracht. Eine Diva, die nur auf besten Böden gedeiht, daher auch ihr standesgemäßer Auftritt in der Eineinhalbliterflasche. Auf der Rückseite des Etiketts, das mit einem goldgeprägten Apfelblatt verziert ist, steht die Auflage: 3238 Stück. Das Verrückte daran: Es dürfte diese Flasche eigentlich gar nicht geben.
Denn lange Zeit galt Apfelanbau auf mehr als 800 Meter Höhe als unmöglich. Bis Thomas Kohl das Gegenteil bewies. Im rund zehn Kilometer nordöstlich von Bozen entfernten Unterinn am Ritten produziert er erstklassigen sortenreinen Apfelsaft – und zwar knapp 1000 Meter über dem Meeresspiegel.
Reist man mit dem Auto an, glaubt man jeden einzelnen Meter zu spüren, so waghalsig schrauben sich die Serpentinen hier den Berg hinauf. Oben angekommen, ist die Luft schneidend klar, wenn auch ungewöhnlich warm für Januar, wie Kohl zur Begrüßung erzählt. Jeans, schwarze Daunenjacke, grauer Kurzhaarschnitt: Ein 50-Jähriger, dem man die körperliche Arbeit nicht ansieht, abgesehen vielleicht von seiner gesunden Bergbräune. Vom Parkplatz aus geht es nach links, Richtung Apfelbäume.
Das Wahrzeichen der Heimat
„Bis vor dreißig Jahren waren hier nur Wiesen und Äcker“, erklärt Kohl mit vom lokalen Dialekt gefärbter Stimme. Bis Anfang der 90er-Jahre betrieben seine Eltern wie alle in der Gegend Milchwirtschaft. Dass er als ältester Sohn einmal den 150 Jahre alten Hof übernehmen sollte, war klar. Doch es blieb die Frage: Wein oder Landwirtschaft? Als Kompromiss entschied sich der erklärte Weinliebhaber für den Obstanbau – warum es nicht mit dem Wahrzeichen seiner Heimat probieren?
Äpfel haben in Südtirol einen hohen Stellenwert. Durch die Römer gelangten sie von Griechenland in Italiens nördlichste, genussverliebte Region, im Mittelalter widmeten sich vor allem Klöster deren Anbau. Heute produzieren rund 7000 Familien jährlich 950 000 Tonnen, meist geht der Ertrag an Genossenschaften oder Händler. 13 Sorten fallen unter die geschützte geografische Angabe Südtiroler Apfel. Dass Endverbraucher heute einen Granny Smith von einem Golden Delicious unterscheiden können, ist nicht selbstverständlich, gibt es in Europa doch rund 2000 Apfelsorten. Die meisten werden zu Säften verarbeitet – allerdings überwiegend als wenig überzeugende Mixtur aus Zucker und Wasser.
Gut Ding will Weile haben
Kohl hatte anderes im Sinn. Er wollte Premiumäpfel, handverlesen und sortenrein, wie er es vom Weinbau kannte. „Der Konsument soll ganz genau nachvollziehen können, was er da im Glas hat.“ Nicht wenige erklärten ihn für verrückt, als er 1988 einen ersten Versuch auf einer Weide am Ende des Grundstücks startete. Erste Abnehmer waren Freunde und Familie. Zu dieser Zeit verdiente er sich noch anderweitig etwas dazu, indem er für Reisegruppen europaweit Besuche landwirtschaftlicher Betriebe organisierte. Ab 1994 begannen Kohl und sein Vater, der noch heute mit auf dem Hof lebt, den Betrieb sukzessive umzustellen. Gut Ding will Weile haben: 2007 kamen die ersten sortenreinen Säfte auf den Markt. „Viele meiner alten Kunden hatten kein Verständnis dafür, dass eine Flasche plötzlich fünf Euro kostet. Dafür konnte ich schnell neue gewinnen“, erinnert er sich.
Die neun Sorten
Heute bewirtschaftet Kohl acht Hektar, das ergibt einen Ertrag von etwa 600 000 Flaschen pro Jahr. Neun Sorten baut er an: Weihrouge, Gravensteiner, Elstar, Rubinette, Pinova, Jonagold, Ananasrenette, Wintercalville und Tiroler Spitzlederer. Die Bäume sind nach Südosten ausgerichtet, die Früchte wachsen langsam, was zu mehr Säure und konzentrierterem Aroma führt. Abgesehen von den selbst gezogenen Holunderbäumen bezieht er die übrigen Zutaten für seine Cuvées von ausgewählten Produzenten, hauptsächlich in Südtirol.
Thomas Kohl
Thomas Kohl baut neun Apfelsorten an, daraus entstehen acht sortenreine Säfte und elf Cuvées. Die Qualität steht dabei immer im Vordergrund: Handlese, sanfte Pressung, keine Filtration. Die Säfte sollen das Terroir, die klimatischen Bedingungen der Region, widerspiegeln und haben durch die kühlen Nächte eine lebendige Säure. Alle Säfte können in Kohls Onlineshop bestellt werden.
Die Parallelen zum Weinbau
„Wir ernten unsere Äpfel vollreif von Hand. Dann werden sie sortiert, gewaschen, im Ganzen klein gemahlen und die so entstehende Maische ausgepresst. Nach einigen Stunden im Tank erfolgt der Saftabzug. Gefiltert wird nicht. Durch die anschließende Pasteurisierung hält er auch ohne Konservierungsstoffe zwei Jahre.“ Spätestens bei der auch von Winzern verwendeten Etikettiermaschine sind die Parallelen zum Weinbau nicht zu übersehen. „Früher gab es Weine in unserer Region auch nur in der Literflasche. Heute sprechen alle von Rebsorten und Terroir. Warum soll das mit Äpfeln nicht auch funktionieren?“
Der Essensbegleiter
Terroir meint in seinem Fall weniger den Boden als die einzigartigen klimatischen Bedingungen am Ritten. Tagsüber sonnenverwöhnt, sind die Früchte nachts großen Temperaturunterschieden ausgesetzt. So bleibt eine knackige Säure erhalten. Den Rest besorgt der stetige Wind. Kein Wunder, dass der Südtiroler Apfelsaft-Affineur seine Produkte europaweit an Feinkostgeschäfte wie Dallmayr und Spitzenrestaurants verkauft.
Sie sind das Gegenteil von Kindergetränken, die Fruchtsäfte ja oft sind, sondern begeistern mit einem komplexen Süße-Säure-Spiel, das sich auch gut als Essensbegleiter macht. Wer die verschiedenen Apfelsäfte hintereinander verkostet, staunt, wie wenig einer dem anderen gleicht. Da finden sich saftige Kirschnoten im Rouge und reife Birnen im Jonagold. Einige Cuvées, Marille oder Heidelbeere etwa, lassen eine erstaunliche Komplexität auf der Zunge zurück, wie angedickt, mit langem Nachhall.
Pinova statt Pinot Noir?
Dann kommt Kohl auf ein Herzensthema zu sprechen, die alkoholfreie Getränkebegleitung. Er ist da fast ein wenig missionarisch unterwegs, lädt Sommeliers zu Verkostungen ein, entwickelt Rezeptideen in Kombination mit seinen Produkten. Der Zeitgeist gibt ihm recht. Immer mehr Menschen wollen weniger Alkohol trinken, manche gar nicht. Ein mehrgängiges Menü nicht ausschließlich mit Wein zu begleiten, sondern mit alkoholfreien Alternativen, wird irgendwann Standard sein, Restaurants wie das Berliner „Horváth“ oder das „Noma“ in Kopenhagen machen es vor. Aber geht das, Pinova statt Pinot Noir?
Apfelsäfte gekühlt im Stielglas
Zeit für die Verkostung. Der Verkaufsraum im Erdgeschoss des Hofs ist großzügig und von warmem Holz dominiert. Gegenüber blickt man auf die Berge, am Nachmittag in eine Farbe getaucht, die an die Apfelsorte Pink Lady erinnert. Auf einem ausladenden Holztisch sind ein halbes Dutzend Flaschen aufgereiht, daneben ein Spucknapf. Kohl schenkt ein, erst den von spitzer Säure dominierten Bergapfelsaft Rouge, dann den sommerlich-spritzigen Gravensteiner. Er empfiehlt, all seine acht sortenreinen Apfelsäfte gekühlt im Stielglas zu servieren. Gleiches gilt für die elf Cuvées, hergestellt aus Bergapfelsaft und Fruchtsäften oder Gemüseauszügen. Wer hier aus Weingläsern trinkt, braucht sich keine Gedanken ums Autofahren zu machen.
Diese Säfte sind purer Genuss
Johannisbeere ist für mich eine wunderbare alkoholfreie Alternative zu Spätburgunder, passt gut zu einem Rindertatar oder einer Südtiroler Marende (Vesper). Die Marille hingegen ist ein guter Begleiter von Eierspeisen und Soufflés, Karotte passt zu Asiatischem und Risotto.“ Besonders gut gefällt der Neuzugang „Bergapfelsaft & Hopfen“ mit seinen irgendwo zwischen Craft Beer und Pet Nat (Natursekt) angesiedelten Aromen, die gut mit kräftigem Käse harmonieren. Dass man seine zwischen 4,95 und 5,90 Euro teuren Säfte nicht mit Wasser mischen soll, versteht sich von selbst. Entschieden sagt Kohl: „Ich empfehle im Stielglas auf Weißweintemperatur zu servieren, pur oder als Speisenbegleiter. Wasser hilft gegen Durst, diese Säfte hingegen sind purer Genuss.“ Und sollte es etwas zu feiern geben, ist es Zeit für die Magnum. www.kohl.bz.it