Sauerteig-Experte Karl de Smedt
Nummer 100 kommt aus Japan, soll von 1875 sein und wird mit gekochtem Reis gefüttert, ein ungewöhnlicher Sauerteig“, sagt sich Karl De Smedt. Er hütet die weltweit einzigartige Sauerteigbibliothek im belgischen St. Vith. Direkt an der deutschen Grenze steht das Center for Bread Flavor, in dem der 50-Jährige schon seit sieben Jahren über 128 Sauerteige aus 25 Ländern am Leben hält und pflegt.
Bis auf wenige Ausnahmen bestehen sie alle aus Mehl und Wasser, aber die Zusammensetzung im Detail macht für De Smedt die Faszination aus. Die Basis bildet immer ein Mix aus Milchsäure- und Essigbakterien sowie Hefen, die durch Stoffwechselprozesse Kohlendioxid bilden und so für Trieb, Geschmack und eine lockere Krume im Brot sorgen. Für De Smedt sind seine Teige jeweils eigene Welten aus lebendigen Kulturen, die sich ein kleines Ökosystem schaffen und so unterschiedlich sind wie ihre Herkunft.
Jeder Sauerteig hat etwas Einzigartiges
So wie der vom französischen Bäcker Eric Kayser. Bei genauerer Untersuchung stellte man fest, dass die Kultur Bakterien enthält, die normalerweise in Honigbienen vorkommen. Ein Blick in die Unterlagen verriet, dass der Teig 1997 mit Honig angesetzt, danach jedoch nur mit Mehl und Wasser weitergeführt wurde. „Also hat der Teig seit über 20 Jahren keinen Kontakt mit Honig gehabt!“, schließt De Smedt, und seinen Augen sieht man die Faszination für dieses Mysterium an. Besonderheiten wie Kaysers Sauerteig machen diese ungewöhnliche Bibliothek zu einem kulinarischen Schatz.
Angefangen hat alles mit einem Zufall
Der Arbeitgeber von Karl De Smedt, eine belgische Backmittelfirma, wollte einen Sauerteig aus Altamura in Italien für industrielle Zwecke verwenden. An der Universität von Bari wurde die Probe auf ihre Milchsäurestränge analysiert. Erstaunt stellten die Forscher fest, dass es nicht die Bakterienstränge waren, die sie erwartet haben. Aus Neugier wurden in den folgenden zwei Jahren Sauerteigproben von Bäckern in ganz Italien untersucht. Das Ergebnis von über 400 verschiedenen Milchsäurebakteriensträngen überraschte Forscher und Fachleute gleichermaßen. Bäcker aus den USA, Griechenland und Ungarn wurden auf die Arbeit der Belgier aufmerksam und schickten ihre Sauerteige ein. „So kamen wir zu unseren ersten 43 Sauerteigen, aber eine Bibliothek war das damals noch nicht“, erinnert sich De Smedt.
Eine besondere Mischung
Jeder Sauerteig ist anders. Das zeigt sich auch in den Mehlen, die von ihren Besitzern bereitgestellt werden müssen. Eine Mischung aus den USA etwa besteht aus sechs Mehlsorten – für nur einen Sauerteig.
Das änderte sich mit einem Anruf aus dem Libanon. Ein Bäcker, der seinen Betrieb an seine Söhne weitergeben wollte, hatte Angst um sein Erbe. Seine Kinder wollten ohne traditionelle Fermentation aus Kichererbsen weitermachen. „Mein Chef, Stefan Kapelle, reiste also nach Beirut und sicherte Proben, die er mit nach Belgien zur Analyse brachte.“ Wieder ein neuer Bakterienstrang, der in St. Vith gesichert wurde. „Eines Abends überlegten wir, was wir mit den Sauerteigen machen könnten. Und da hatte Stefan die Idee einer Bibliothek.“
Seit der Gründung am 15. Oktober 2013 erreichen De Smedt regelmäßig Anfragen. Doch wer Teil der Sammlung werden möchte, muss einige Voraussetzungen erfüllen: Das Wichtigste ist, dass der Sauerteig durch spontane Fermentation, also nur durch Mehl, Wasser und Zeit entstanden ist. „Da scheiden viele Bäckereien aus, denn oft wird mit Reinzuchtsauerteigen und Fertigzusätzen gearbeitet. Die brauchen wir nicht, uns interessiert Biodiversität.“ Eine gute Geschichte erhöht zudem die Chancen einer Aufnahme. Wie die von Nummer 106 aus Kanada, einem Sauerteig aus dem Jahr 1898, der schon während des Goldrauschs aktiv gewesen sein soll. „Bestimmen können wir das Alter noch nicht, da muss man den Besitzern vertrauen.“ In diesem Fall einer Kanadierin, die diesen Teig von ihrem Urgroßvater bekommen hat, und der dann von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Die Vorstellung, ein Brot mit Sauerteig zu backen, der schon Goldgräber am Yukon gestärkt hat, ist tatsächlich faszinierend. Wird ein Teig Teil der Sammlung, wird er auf die Bakterienkultur analysiert und seine DNS entschlüsselt. 500 Gramm davon bleiben bei De Smedt in einem sterilen, luftdichten Glas und werden bei vier Grad Celsius gelagert. Alle zwei Monate ist Fütterungszeit. Dann entnimmt De Smedt aus jedem Glas 20 Gramm, frischt den Teig in drei Stufen auf, sodass er am Ende auf ein halbes Pfund kommt. Der Rest wird vermischt, getrocknet und Besuchern als Souvenir „Magic Mix“ mit nach Hause gegeben. Das Mehl für die Fütterung wird vom Besitzer bereitgestellt, die meisten von ihnen kennt De Smedt persönlich und hält regen Kontakt.
Oft wird seine Expertise auch für Brotbackbücher gebraucht, so war er etwa an der Entstehung des Mammutwerks „Modernist Bread“ beteiligt – 2196 Seiten über Brot. Doch De Smedt weiß, es gibt noch viel mehr zu erforschen: „Die Zukunft des Brots liegt in seiner Vergangenheit.“