Trendcheck: Küchenlabore
Das erwartet Sie hier:
Das Labor ist ein Ort für Experimente, deren Ergebnis zumeist nicht vorhersehbar ist. Es ist ein Ort der Forschung und der Innovation. In der Wissenschaft Standard, für ein Restaurant allerdings eher ungewöhnlich. Bis Ferran Adrià 1987 das "El Bulli" übernahm und es zu einer Pilgerstätte für Gourmets aus aller Welt machte. Mit innovativen Techniken schuf er eine neue Avantgarde-Küche und rückte das Erlebnis seiner Gäst:innen mit überraschenden Effekten in den Mittelpunkt. Mit flüssigen Kroketten, Tomatensphären oder Melonenperlen sorgte das "El Bulli" weltweit für Furore und wurde so zum bis heute einflussreichsten Restaurant. Als es im Juli 2011 schloss, sagte Adria: ",El Bulli‘ schließt nicht, es wandelt sich, denn seine Seele bleibt." Inspiriert hat es seither unzählige Köch:innen rund um den Globus, Küchenlabore gibt es heute in immer mehr Restaurants. Forschung im Dienste des Geschmacks.
Große Wirkung: Das "Alchemist" in Kopenhagen
Fragt man Köch:innen nach ihrer Inspiration, sind es oft die Zutaten. Fragt man Rasmus Munk vom "Alchemist" in Kopenhagen, erhält man eine ganz andere Antwort: "Für mich sind es gesellschaftliche Strömungen oder Probleme, die Gerichte dienen mir als Mittel, um darauf aufmerksam zu machen." Mit seinem Team, zu dem auch Sound- und Industriedesigner:innen gehören, entwickelt er auch das Umfeld zu einem Gericht: "1984", benannt nach dem Roman von George Orwell, wird in einem Auge serviert, dessen Pupille aus Erbsen und Kaviar besteht. Es soll die Datenunsicherheit in Zeiten von sozialen Medien thematisieren. Von einer Leinwand starren dazu Augen auf die Gäst:innen.
Für Rasmus Munk macht die Verknüpfung aus Spitzenküche mit relevanten aktuellen Themen einen besonderen Reiz aus: "Über das Essen lassen sich Emotionen transportieren, wir geben dem Ganzen einen größeren Kontext." Zum Restaurant gehört auch ein Labor, in dem wissenschaftliche Forschung betrieben und Innovationen gefördert werden. "Das sind langfristige Projekte, die etwas bewirken können, manchmal profitiert das Restaurant davon." Wie zum Beispiel bei der Erforschung des Hinterleibs der Königskrabbe, der normalerweise entsorgt wird. Im Labor wurde eine Methode entwickelt, ihn genießbar zu machen – er wird jetzt als Kuchen serviert.
Zu Gast im Wunderland: "The Fat Duck" in Bray
Am Eingang des Restaurants "Fat Duck" in Bray nahe London hängt ein Schild, das die Philosophie des Inhabers und Küchenchefs Heston Blumenthal in zwei Worten zusammenfasst: "Question Everything" – alles infrage stellen. Der 57-jährige Spitzenkoch gehört zu den Pionieren der multisensorischen Gastronomie. Eine Küche, die alle Sinne anspricht, den Gast überrascht und mit Konventionen bricht. Dafür nutzt er ein eigenes Labor, in dem ganze Gerichte oder wichtige Elemente entwickelt werden.
Früh erkannte er das Potenzial von flüssigem Stickstoff, nutzte das Sous-vide-Verfahren (Garen im Vakuumbeutel) und setzte Geliermittel ein, um bekannte Aromen in neuer Textur zu kreieren. Viele dieser Techniken gelten heute als Standard, waren aber vor mehr als 20 Jahren revolutionär. Das Gericht "Meat Fruit" sieht aus wie eine Mandarine, ist aber eine Mischung aus Hühnerleber und Gänseleber in einem Gel aus Mandarine, Paprikaextrakt und Glukose. Komplexe Gerichte wie dieses entstehen in langwierigen Versuchsreihen, die ein tiefes Verständnis der physikalischen und chemischen Vorgänge beim Kochen erfordern. Kein Problem für Blumenthal, er ist Mitglied der Royal Society of Chemistry.
Nicht ist unmöglich: Das "Alinea" in Chicago
Die spektakulären Kompositionen, die im "Alinea" in Chicago serviert werden, entstehen nicht im Labor. Vielmehr ist es der Geist von Wissenschaftlern, der die Arbeit der Köche und Köchinnen bestimmt. Jeder ist aufgerufen, Ideen einzubringen, zu experimentieren und an der passenden Umsetzung zu forschen, egal wie abwegig die Idee auch erscheinen mag. Ein Gericht, das schwebt? Warum nicht? Lange wurde mit verschiedenen Zuckerarten, Temperaturen und Stabilisatoren experimentiert, bis der Ballon so gut war, dass er serviert werden konnte. Ein anderes Gericht erinnert an aufgebrochenen Beton, aus dem Sprossen wachsen, die vom Service mit einem Graffiti aus Karottensauce besprüht werden.
Was in mancher Küche als Hirngespinst abgetan würde, wird hier zum kulinarischen Spektakel. Am Whiteboard werden Skizzen angefertigt, Ideen ausgetauscht und in der Küche experimentiert. Irgendwann wird das Gericht dann am Pass zusammengesetzt und den Gästen serviert. Die Neugier und der Erfindergeist werden auch in der Cocktailbar gelebt. Das Genusserlebnis wird hier wörtlich genommen.
Niemals normal: Das "Mugaritz" in Errenteria
Die Menüs im "Mugaritz" bei San Sebastián sind immer im Wandel, selbst einzelne Gerichte werden konstant hinterfragt. "Für die Entwicklung eines Gerichts können Jahre vergehen", sagt Inhaber und Küchenchef Andoni Luis Aduriz, "doch selbst wenn es fertig ist, entwickelt es sich weiter." So wie damals im "El Bulli", in dem er rund zwei Jahre gearbeitet hat, werden auch hier die Türen für sechs Monate geschlossen. Das ganze Restaurant wird zu einem Kreativlabor, in dem Ideen ausgetauscht, verworfen oder weitergedacht werden. Am Anfang steht immer die Skizze.
"Im Winter schmückt die nüchterne Küche eine Art Wandgemälde aus bunten Ideen – ein regelrechter Farbrausch", sagt Andoni Luis Aduriz. So entstehen Gerichte wie "The skin I live in", diese "Haut" besteht aus einem Film aus Cider und Flohsamenschalen und wird zum Verzehr von einem Porzellangesicht abgezogen. Stillstand gibt es hier nicht. "Die Suche geht immer weiter, sonst würde Normalität entstehen, wir würden aufhören zu überraschen." Der Titel des Menüs zum 25-jährigen Jubiläum in diesem Jahr ist bezeichnend für das "Mugaritz": "Memories of the future".
Offener Geist: Das "Noma" in Kopenhagen
Im "Noma" werden jede Saison bis zu 150 Gerichte entwickelt – 20 davon schaffen es ins Menü. "Unsere Arbeit beginnt lange im Voraus, manchmal über ein bis zwei Jahre", sagt Thomas Frebel, Creative Director des Kopenhagener Restaurants. Alles stützt sich auf vier Säulen: die eigene Erfahrung, die Versuchsküche, das Fermentationslabor und die Natur. Inhaber René Redzepi setzte von Anfang an auf regionale und saisonale Zutaten, mit denen gut geplant werden kann. Bambus aus Dänemark, der für die Pandas im Zoo angebaut wird, kam zufällig ins Spiel. "Wir sind dabei, herauszufinden, wie wir ihn im Menü verwenden können – die Möglichkeiten sind unendlich", sagt Frebel.
Ein wichtiger Faktor ist die Neugier auf Koch- und Fermentationstechniken aus aller Welt, die für eigene Produkte adaptiert werden. Etwa Scoby, die Zelluloseschicht, die bei der Fermentation von Kombucha entsteht. Das Team fand heraus, dass in Zucker gekochter Scoby in Indien gegessen wird. Drei Monate lang experimentierten die Köche, um daraus ein Gericht für das "Noma" zu entwickeln. Der Schlüssel war schließlich ein Enzym, das die Zellulosestruktur aufbricht und zart macht. Zusammen mit einer Würzsauce im XO-Stil aus fermentiertem Kürbis, wildem Pfeffer und Rosenöl wurde daraus eine Kreation für das Sommermenü 2022 – garantiert einzigartig.
Zeit ist Geschmack: Das "etz" in Nürnberg
Küchenchef Felix Schneider bleibt auf bekanntem Terrain und blickt dennoch über den Tellerrand hinaus. Lokale Spitzenprodukte – ob von Landwirten oder selbst gesammelt – werden im "etz" zu echten Delikatessen. Dabei spielt Fermentation eine Schlüsselrolle. Für Felix Schneider ist es eine Kochtechnik wie Dämpfen oder Braten. "Zeit, Salz, verschiedene Bakterien- oder Pilzkulturen transformieren Lebensmittel in einer Art und Weise, die ganz neue Geschmackswelten und Texturen möglich macht", sagt er.
200 Quadratmeter umfasst das Fermentationslabor im "etz" um gleichbleibende Ergebnisse zu erzeugen, wurden Klimakammern zweckentfremdet. Wo sonst Produkttests unter konstanter Temperatur und genau einstellbarer Luftfeuchtigkeit stattfinden, fermentieren Löwenzahnknospen, Erbsen-Shoyu (wie Sojasauce) oder Himbeerblätter unter idealen Bedingungen. Das Experimentieren ist Teil der Philosophie, bekannte Produkte werden mit Pilzkulturen geimpft oder mithilfe von Salz fermentiert. "Wenn uns das Ergebnis gefällt, können wir es weiter so reproduzieren", erklärt Felix Schneider. Die wichtigste Zutat dabei: Zeit.
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