Koch des Jahres 2024: Benjamin Chmura
Wenn Benjamin Chmura als Junge seine Oma in München besuchte, dann führte ihr Spazierweg immer an einem großen grauen Gebäude vorbei, das ihn faszinierte. Nicht nur, weil vor dem Eingang zwei aus Stein gehauene Fabelwesen wachten. Sondern auch, weil man durch die bodentiefen Fenster vielen gut gelaunten Menschen beim Genießen zusehen konnte. „Wenn du groß bist, lade ich dich hier zum Essen ein“, versprach die Großmutter. Leider hat sie nicht mehr erlebt, dass ihr Enkel das Restaurant seiner Kindheitsträume eines Tages leiten würde; dass es ihn in die Küche zog, war allerdings früh klar.
Von Königsberger Klopse über Falafel bis zur Haute Cuisine
In Brüssel wuchs er sehr kosmopolitisch auf – und mit verschiedenen kulinarischen Prägungen. Seine deutsche Mutter kochte Königsberger Klopse, der polnisch-israelische Vater Falafel und Baba Ganoush, die Eltern seiner Freunde klassisch französisch. Mit 15 begann er, neben der Schule in einem Restaurant zu jobben: „Dort habe ich mich endgültig in die Gastronomie verliebt“, sagt er. Nach Stationen bei einigen der größten Köche Frankreichs ist Chmura seit 2021 Küchenchef im „Tantris“. Dass er dank seiner Mutter perfekt Deutsch spricht, ist hilfreich, aber er sagt auch: „Erst seit ich hier lebe, ist mir klar, wie französisch ich bin.“
Wie zeitgemäß ist die französische Haute Cuisine?
„Für mich ist sie die Mutter aller Küchen. Und sie erfindet sich immer wieder neu“, sagt Chmura. Mit ihrem Fokus auf Regionalität und Saisonalität, mit schmackhaften Gemüsezubereitungen und den vielen Rezepten, bei denen alles vom Tier verwendet wird, sieht er sie auf der Höhe der Zeit. „Es ist für mich die Küche, die am meisten Sinn macht.“ Wichtig ist ihm, bei kleinen Produzenten zu kaufen. Und zwar am liebsten direkt, ohne Zwischenhandel, ganz gleich, ob Lamm vom Gutshof Polting aus Niederbayern oder handgeangelte Seezunge aus der Bretagne: „Was zählt, ist die Qualität des Produkts.“ Dank seiner Zeit bei Michel Troisgros pflegt er freundschaftliche Beziehungen zu den besten Erzeugern Frankreichs. Ob Seeigel, Taschenkrebs oder lebende Garnelen – sein Freund Antoine aus dem bretonischen Guilvinec schickt ihm Fisch und Meeresfrüchte direkt, in einer Frische und Qualität, die im meerfernen München ihresgleichen sucht.
Zwei Restaurants unter einem Dach – wie funktioniert das?
Ein herausfordernder Spagat: Neben dem „Tantris“, wo mittags und abends große Menüs serviert werden, führt Chmura auch das „Tantris DNA“. Hier kann man Gerichte der klassisch französischen Küche à la carte bestellen. „Eine Küche, ein Team, zwei Speisekarten“, sagt Chmura. Er sieht es als Herausforderung, freut sich, dass er im kleineren Schwesterrestaurant zeigen kann, wie zeitgemäß und genussvoll klassische Zubereitungen sein können. Zum Beispiel zur Weihnachtszeit ein Lachs Koulibiac für zwei, ummantelt von Spinat, Pfifferlingen und Buchweizen, in buttrigem Blätterteig zu vollendeter Glasigkeit gegart. Oder fluffiges Jakobsmuschelsoufflé mit zarter Meeresfrüchtearomatik, inspiriert von Heinz Winkler. Der Clou: Beim Anschneiden fließt aus dem Inneren flüssiges Eigelb auf den Teller!
Er ist ein großer Verfechter klassischen Handwerks. Warum?
„Es ist die Basis für alles, und ich mache mir Sorgen, dass es verloren geht“, sagt Chmura. In vielen Küchen ersetzt heute moderne Technik mehr und mehr die Handarbeit. Chmuras junge Mitarbeiter lernen dagegen, Saucen jeden Tag frisch anzusetzen, Fisch erst wenige Stunden vor dem Service zu filetieren, Gemüse nicht vorzukochen. „Es gibt ein Zauberwort in der französischen Küche, das heißt: à la minute. Es ist der einzige Weg, die Frische und den Geschmack eines Produkts direkt an den Gaumen zu bringen.“ Nie würde er den begehrten grünen Spargel von Robert Blanc aus der Provence vorgaren und auf Eis kalt stellen, um ihn vor dem Servieren nur noch aufzuwärmen. „Ich nehme das Risiko auf mich, ihn à la minute zu garen. Das schmeckt ganz anders als vorblanchiert.“ Anders als in den meisten deutschen Spitzenküchen werden im „Tantris“ seit Kurzem wieder Kochlehrlinge ausgebildet: „Wir müssen unser Wissen an die nächste Generation weitergeben, sonst geht es verloren.“
Wie schmeckt ein typisches Chmura-Gericht?
Seine Bandbreite ist enorm. Zu Beginn des Menüs gibt es oft minutiös gearbeitete kleine Kunstwerke, in deren Mittelpunkt Gemüse oder Meeresfrüchte stehen. Zum Beispiel im Sommer die Fleur de concombre, ein bildschönes Tartelette, gefüllt mit Bonito und Buchweizen, gekrönt von unzähligen, zu filigranen Röschen gedrehten Gurkenscheibchen: „Die Idee entstand, weil wir so viele Gurkenabschnitte hatten, die wir verwerten wollten.“ Oder eine federleicht-knusprige bretonische Galette, gefüllt mit Taschenkrebsfleisch, begleitet von cremigem Krustentiersabayon. Auch bei den kräftigeren Hauptgängen geht Chmura Saisonalität über alles: „Jetzt, in der Vorweihnachtszeit, haben wir wieder Lièvre à la Royale auf der Karte, stundenlang geschmorter Wildhase mit einer Sauce aus den eigenen Innereien, gebunden mit seinem Blut. Ein Rezept aus dem 18. Jahrhundert.“
Mit 35 Jahren an der Spitze einer Restaurant-Ikone – wie fühlt sich das an?
„Ich sehe mich noch ganz am Anfang meines Wegs. Es liegt noch sehr viel Arbeit vor mir.“ In letzter Zeit denkt er oft an seinen Vater, den Dirigenten Gabriel Chmura, der überraschend starb, kurz bevor der Sohn im „Tantris“ antrat. „Für ihn ging es immer nur um seine Musik – und um Perfektion.“ Er erinnert sich an die letzten Gespräche, die sie führten: „Ich glaube, ich werde ihm immer ähnlicher. Auch ich bin sehr emotional mit meiner Arbeit.“
Benjamin Chmura
Alter: 35 Jahre
Stationen: Geboren in Ottawa, wächst er in Brüssel auf; seine Mutter ist Deutsche, sein Vater der polnisch-israelische Dirigent Gabriel Chmura. Nach dem Abitur lässt er sich am Institut Paul Bocuse in Lyon zum Koch ausbilden. Zu seinen prägenden Stationen zählen die elsässische „Auberge de l’Ill“, das „Le Cinq“ in Paris und das „Maison Troisgros“ in Roanne. Internationale Erfahrung sammelt er im Londoner „The Greenhouse“ und in einem japanischen Restaurant an der australischen Sunshine Coast.
Restaurant: Seit 2021 führt er als Küchenchef das „Tantris Maison Culinaire“ mit den Restaurants „Tantris“ und „Tantris DNA“. Das legendäre hummerrote Seventies-Ambiente (unter Denkmalschutz) setzt im „Tantris“ den Ton. Mit 60 Plätzen zählt es zu den größten Gourmet-Restaurants Deutschlands. 24 Mitarbeiter in der Küche, 12 im Service.
Freizeit: Chmura wandert gern durchs Voralpenland oder fährt Rennrad. Sein liebstes Hobby: Essengehen.
Feinschmecker-Bewertung
Konzept: Restaurant-Ikone mit französischer Haute Cuisine, aktuell interpretiert. Zwei Menüs, eines vegetarisch, mittags 4-6, abends 6-8 Gänge.
Küche: Benjamin Chmura, in großen Küchen gestählt, bringt kulinarische Weltläufigkeit nach München – mit handwerklich ausgefeilter, ganz auf das große Produkt fokussierter Stilistik auf der Höhe der Zeit. Dank seines Netzwerks findet in der Saison sogar der extrem gefragte grüne Spargel von Sylvain Erhardt aus der Provence den Weg an die Isar, den er puristisch serviert, kongenial eingerahmt von Pistazien-Estragon-Creme und frischen Kräutern. Jakobsmuschel brät er so gekonnt, dass man all ihre geschmacklichen und texturellen Facetten geniesst und serviert sie mit knackigen Bittersalaten und feinsäuerlicher Sauce Gribiche. Großes Handwerk beweist er im Winter mit Lièvre à la royale, geschmortem Wildhasen mit Entenleber, dessen Sauce auch Herz und Nieren des Tieres enthält, mit Schokolade wird sie zur sämigen Delikatesse abgeschmeckt. Krönender Abschluss: Maxime Rebmanns inspirierte, zurückhaltend gesüßte Desserts.
Wein: Julian Grünwald führt das engagierte junge Sommelierteam, das aus einem der besten deutschen Keller mit Frankreich-Schwerpunkt und Jahrgangstiefe schöpft.
Atmosphäre: Das legendäre Interior Design in Hummerrot und Schwarz lohnte schon alleine den Besuch; bequeme Sessel, bester Service.
Fazit: Große zeitgemäße Kochkunst trifft auf spektakuläres Ambiente.
Konzept: Im „Tantris“-Zweitrestaurant werden Klassiker der großen französischen Küche zeitgemäß interpretiert. À-la-carte-Angebot sowie je ein Menü mittags und abends.
Küche: Benjamin Chmura führt nun auch die „kleine Schwester“ und beweist hier, wie leidenschaftlich er bestem Handwerk und der großen Klassik verbunden ist. Exzellent gelingen Terrinen und Pasteten wie Pâté en Croûte auf Basis von Challans-Ente, Entenleber, Kalbsbries, Bioschwein und frischen Pistazien, serviert mit Vinaigrette und Wildkräutersalat. Traditionsrezepte holt er in die Jetzt-Zeit, wenn er bretonischen Hummer auf leicht karamellisiertem Koshihikari-Reis, in Schalentier-Bisque gekocht, serviert: Gewitzt angelehnt an eine Paella, würzig abgeschmeckt mit Sepia und Chorizo, dazu eine aus den Hummerkarkassen gezogene, wunderbar intensive Sauce américaine. Besondere Spezialität: Gerichte, die am Tisch tranchiert werden wie Eckart Witzigmanns in Teig gebackenes „Kalbsbries Rumohr“ mit Herzbries, Entenleber und schwarzem Trüffel. Dazu passen meisterliche Dessert-Interpretationen von Maxime Rebmann à la Baba au Rhum mit Crème Chantilly.
Wein: Die imposante „Tantris“-Karte mit rund 2500 Positionen, Frankreichschwerpunkt und vielen gereiften Flaschen gilt auch hier.
Atmosphäre: Blanke Marmortische, Polsterbank und Stühle in Hummerrot – das „Tantris“ bleibt sich hier auf zeitgemäße Art treu. Jürgen Haberle sorgt für formvollendeten Service mit Augenzwinkern. Große Sommerterrasse.
Fazit: Klassisches Genusserlebnis in stilvollem Rahmen.