Max Scharnigg: Alle Macht dem Mittagstisch!

Kolumne: Alle Macht dem Mittagstisch!

Ein schnelles Lunch-Menü ist am Ende doch nur Teil der Arbeit. Es wird Zeit, sich auch in der Mittagspause Opulenz zu gönnen, findet Autor Max Scharnigg.
Text Max Scharnigg
Datum21.10.2024

Neulich im „Il Baretto“ im Zentrum von Mailand. Es ist 13.30 Uhr, draußen vor der Tür herrscht die übliche Gemengelage des mondänen Shoppingviertels: staunende Touristen, elegante Kundinnen, eilige Geschäftsleute, in den engen Straßen liegt eine schwere Mittagshitze. Im Restaurant hingegen herrscht gedämpfte Dunkelheit, in der die Kellner mit ihren tadellosen Anzügen fast verschluckt werden. Alle Tische sind besetzt, beflissen und lautlos werden Dutzende Teller jongliert: Gamberini mit Artischocken, Risotto, Kalbskotelett, Getrüffeltes. Auch wenn die Menschen an den Nachbartischen so aussehen, als würden ihnen die Luxusboutiquen draußen gehören – das ist kein Businesslunch, es muss nicht schnell gehen, es muss nicht leicht sein. Nein, was hier zelebriert wird, ist opulentes, ausuferndes, großbürgerliches Mittagessen in seiner schönsten Form. Und während man den Plan von höchstens einem Glas Vermentino über den Haufen wirft, merkt man, wie lange man das nicht mehr hatte: großes Mittagessen, paradiesisches pranzo, High Noon und Haute Cuisine. Was für ein Luxus: Man feiert den Tag, wenn er am schönsten ist.  

Die Arbeitswelt zerstört das Mittagsessen

Die moderne Arbeitswelt setzt dem Mittagessen seit Jahrzehnten zu. Was in Kantinen gekocht wird, ist ja oft bloß Sättigungseinheit. Allerdings immer noch besser, als ein Ciabatta in die Tastatur zu bröseln oder sich mit Salat aus der Plastikschüssel auf der Parkbank Work-Life-Balance einzubilden. Auch der erwähnte Businesslunch, zu dem sich viele Restaurants genötigt sehen, um überhaupt noch mittags aufschließen zu können, ist meist keine kulinarische Kür. Stattdessen: irgendwas Kleines, Schnelles, mit Salat dabei, Espresso hinterher, garantiert serviert in 20 Minuten, vergessen ungefähr auch so schnell. Sicher, so ein Angebot erfüllt seinen Zweck, das Essen soll schließlich nicht von den Inhalten des Lunchmeetings ablenken. Das Grundproblem aber bleibt: Mittagessen findet heutzutage fast nur noch im Arbeitskontext statt, als Fußnote des Erwerbslebens sozusagen. Und weil es in Schulen, Uni und Arbeit so organisiert wird, dass alle Familienmitglieder mittags irgendwie einzeln warm versorgt sind, genügt abends daheim was Kleines – in Deutschland eben die notorische Brotzeit. Ergebnis: Es wird eigentlich nur noch am Wochenende mal groß und gemeinsam gegessen. 

Ein Kulturgut geht verloren

Mit dem outgesourcten Mittagessen geht uns aber ein Kulturgut verloren. Vielleicht hat der eine oder andere noch Erinnerung an eine Oma oder Uroma, die nach dem Frühstück stets schon in emsige Betriebsamkeit verfiel, weil eine Brühe aufzusetzen war, ein kleiner Braten oder ein großes Huhn in den Ofen mussten. Das war noch der feste Küchentakt einer Generation, die wusste, dass man mittags etwas brauchte, was einen den restlichen Tag durchstehen ließ: Kraft, nicht nur durch gutes Essen, sondern eben auch die Versicherung einer familiären Runde, vom Kleinsten bis zum Greis. Möglich gemacht wurde diese Institution durch Frauen, die umsichtig planten, einkauften und vormittags bereitwillig in der Küche standen. Derlei ist heute nicht mehr denkbar, und auch das lässt die Mittagessenkultur daheim erodieren. 

Mittagessen als neues Statussymbol

Die Lockdown-Monate und der anschließende Siegeszug des Homeoffice hätten eine kleine Renaissance des Mittagessens einläuten können. Schließlich sind heute wieder mehr Menschen mittags zu Hause und können sich ihre Arbeit einteilen, sodass eigenes Kochen oder ein lukullisches Abtauchen wie im „Il Baretto“ durchaus denkbar wäre. Vielleicht gelingt das Comeback, wenn man das Mittagessen als Statussymbol umetikettiert, ähnlich wie das Sehnsuchtsmöbel Daybed im Interieur-Design. Bei beiden lautete die Botschaft: Seht her, ich kann mir den Tag selbst einteilen, unterliege keinem rigidem Schichtplan und kann es mir leisten, bis um drei sitzen zu bleiben oder eine halbe Flasche Nuits-Saint-Georges 1er Cru zu trinken – einfach so, weil es passt. Die gastronomische Welt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auf das Dinner fokussiert, zumindest, wenn es um Opulenz geht. Dabei ist es eigentlich nicht sehr bekömmlich, bis kurz vor Mitternacht zu tafeln. Nach einem Mittagessen aber hat der Körper noch genug Zeit, die Kalorien ein bisschen zu sortieren. Oder man macht eben ein Nickerchen auf dem Daybed.

Eine Kolumne von Max Scharnigg

Max Scharnigg ist Schriftsteller und Redakteur der Süddeutschen Zeitung.
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