Grünzeug vom Dach
Text | Stefan Elfenbein
Hüte und Kappen gut festhalten, die werden leicht weggeweht“, sagt Tracy zu Beginn der Führung. Dann stellt sich jeder Teilnehmer mit Vornamen vor. „Wir bekommen Pflanzen und Tiere zu sehen, die manche von euch gar nicht kennen.“ Monarch und Zitronenfalter sowie ein Schwalbenschwanz flattern vorbei. Zwischen Mangold, Schwarzkohl, Borretsch, Knoblauch, Gurken, Tomaten und Paprika stehen Wildpflanzen, die für das Überleben bestimmter Schmetterlingsarten unbedingt notwendig sind.
Schillernde Kolibris schwirren von Blüte zu Blüte, Bienen summen um Bienenstöcke – in der Ferne, auf der anderen Seite des East River, ragen die Türme von Manhattans Midtown empor. Tracy ist eine der freiwilligen Helfer, die Besucher durch die Dachgärten von Brooklyn Grange führt. „Grange“ bedeutet Gehöft oder Bauernhof, und Brooklyn Grange gilt mit seinen drei Dachgärten in Brooklyn und Queens und einer Gesamtfläche von 2,3 Hektar als größte Rooftop Farm in der Metropolregion von New York City mit 19 Millionen Menschen.
Foto: Adrian Mueller
Gegründet wurde Brooklyn Grange 2009. Damals taten sich Ben Flanner, Anastasia Plakias und Gwen Schantz zusammen, drei junge Aktivisten, die sich zu der Zeit für Natur und Umweltschutz und für Gemüsegärten besonders in den ärmeren Stadtteilen von New York einsetzten. 2010 wurde ihr erstes Rooftop in Long Island City in Queens verwirklicht, 2012 folgte das zweite in Brooklyns ehemaligem Marinehafen, dem Navy Yard, und im Sommer 2019 das dritte in Brooklyns Sunset Park. „Bitte auf den markierten Wegen bleiben, hier wird gearbeitet“, ermahnt Tracy.
Foto: Adrian Mueller
Es duftet nach Kindheit, Garten, Humus
Ihre heutige Tour führt über das Dach einer sechstöckigen ehemaligen Lagerhalle auf dem Rooftop im Navy Yard. Blattsalat und Schnittlauch werden geschnitten, Radieschen und Karotten aus der Erde gezupft. In einem umzäunten Bereich gackern Hühner, eine Schulklasse darf Bio-Eier einsammeln. Zwanzig Mitarbeiter hat Brooklyn Grange, und saisonal von April bis November kommen rund siebzig Erntehelfer dazu. Insgesamt 36 000 Kilogramm Biogemüse werden im Durchschnitt pro Jahr geerntet. Das meiste wird auf Wochenmärkten verkauft oder – wie auch schon in der Zeit vor Corona – direkt an Restaurants in die Stadt geliefert.
Foto: Adrian Mueller
An einer Stelle wird in bereits abgeernteten Beeten Kompost vom Vorjahr ausgebreitet und untergegraben. Spaten stehen bereit, jeder darf mitmachen. Regenwürmer kringeln sich in der feuchten Erde, es duftet nach Kindheit, Garten, Humus und gesunder Natur. Das Besondere an Brooklyn Grange sei, so Tracy, dass es sich um eine „Soil Farm“ handele, also um eine Erdfarm, bei der alle Pflanzen tatsächlich in einer rund 30 Zentimeter dicken Schicht intakter, lebendiger Erde wachse. An der idealen Zusammensetzung von Erde, Unterlage und Drainage habe man viele Jahre lang penibel gefeilt und gewerkelt. Das so gewonnene Know-how stellt das so genannte DesignTeam von Brooklyn Grange auch für private Projekte zur Verfügung.
Positive Effekte für Stadt, Natur und Umwelt
Neben der eigenen Ernte hat eine Dach oder Rooftop-Bepflanzung weitere positive Effekte für Stadt, Natur und Umwelt. So hat Brooklyn Grange ermittelt, dass in den oberen und anderweitig genutzten Stockwerken der drei bepflanzten Gebäude bis zu dreißig Prozent der Kosten für Heizung und Klimaanlagen eingespart würden. Außerdem trage jedes begrünte Dach zur Senkung der Temperatur in New Yorks brütend heißen Sommern bei.
Foto: Adrian Mueller
Gerade in diesem Sommer hätten die im Juli durch die Ausläufer von Hurrikan Elsa verursachten schweren Überflutungen in der Stadt gezeigt, welche Auswirkungen die zunehmende Versiegelung von Flächen hat. Rund 620 000 Liter Regenwasser haben, so wurde von New Yorks lokaler Umweltschutzbehörde, dem Department of Environmental Protection, ermittelt, allein die drei bepflanzten Rooftops von Brooklyn Grange während des schwersten Regentags im Juli zurückgehalten, genutzt und vor dem Abfließen in die Straßen New Yorks gehindert.