Küstentram Belgien: Auf der Suche nach den kulinarischen Höhepunkten
Wenn es Morgen wird in Ostende, dann müssen erst mal die Angestellten der Lijn ran, mit ihren Sandbläsern, die eigens für diese Arbeit erfunden wurden. Denn der Sand muss von den Schienen – wenn es windig ist, sogar mehrmals am Tag. Damit die Linie Null fahren kann. Ja, so heißt sie offiziell: Linie 0. Die Einheimischen aber nennen sie nur Kusttram, die Küstentram.
Eine weiße Straßenbahn der belgischen Verkehrsgesellschaft De Lijn, die im Winter alle 15, im Sommer alle zehn Minuten einmal die komplette Seeseite des Landes abfährt. Als Passagier hat man dabei die Nordsee im Blick, aber nicht nur die, sondern auch die wechselnde Landschaft, mal Wald, mal Dünen. Sehr oft aber auch Hochhäuser, die so unterschiedlich sind, dass es hier nicht einen, sondern eher zehn Baustile gibt – wenn man überhaupt von Stil sprechen will: Es sind Zehn- und Achtzehn-Stöcker, wild durcheinander, dazu massig Kräne, denn der Bauboom kennt kein Ende.
Belgien ist ein kleines Land, und in den Siebzigern wollten alle wohlhabenden Bürger:innen Meerblick haben. Das ging nur mit "Mehr, höher, hässlicher", und so sind die 14 Dörfer heute eine Art Museum dafür, wie man es machen kann, aber nicht unbedingt sollte. Und doch ist da ein besonderer Charme an dieser Küste – und etwas passiert, das selbst ästhetikverliebte Tourist:innen lockt: Das Land hat in den vergangenen Jahren ordentlich aufgeholt in Sachen Fine Dining. Also steigen wir ein, lösen ein Tagesticket für 7,50 Euro und fahren einmal von Süd nach Nord, auf der Suche nach den kulinarischen Höhepunkten an der Küste.
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Haltestelle Koksijde Sint-Idesbald der Linie 0
Keine fünfzig Schritte sind es vom Haltepunkt vis-à-vis des Strandes zu unserem ersten Ziel: Hinter bodentiefen Fenstern liegt – ganz unscheinbar – eines der besten Steakrestaurants, nein, nicht der Region, sondern des Landes, mindestens. Die Buchstaben im Fenster schimmern im Licht der hochstehenden Sonne: "Carcasse". Und innen, am offenen Herd, steht Timon Michiels. Der hochgewachsene Flame, 25 Jahre alt, kennt den Laden seit seiner Kindheit. Schon als Vierjähriger kam er hierher, damals war "Carcasse“ kein Restaurant, sondern nur eine Metzgerei der Familie Dierendonck. Hier bekam er seine Wienerwurst über den Tresen gehalten, heute steht er am Plancha-Grill. Gottlob nicht mehr für Würstchen, sondern für die Spezialitäten von Hendrik Dierendonck – Metzger in dritter Generation, der größer dachte, mehr wollte. Als er sein zweites Geschäft aufmachte, sprach sein Vater ein halbes Jahr nicht mit ihm. Expansion – das war dem alten Flamen nicht geheuer. Doch dann ging es Schlag auf Schlag, Laden für Laden eröffnete – und mit dem "Carcasse“ ein Restaurant, das für den großen Fleischgenuss steht.
Die Zeit spielte Dierendonck in die Hände: Endlich machten sich die Menschen Gedanken um Aufzuchtbedingungen, um Qualität – und waren bereit, für ein gutes Gewissen und guten Geschmack auch gutes Geld zu zahlen.
Das wird im Restaurant Carcasse serviert
Während vor dem Fenster wieder einmal die Tram vorbeirattert, kommen die Vorspeisen an den Tisch: Das Tatar wird in einem Rinderknochen serviert und ist einfach perfekt: Das Fleisch ist grob mit dem Messer geschnitten, so bleibt die Textur kräftig und unterstreicht zugleich die Würze und die Zartheit des rohen Filets. Dazu kommen Schnittlauch sowie eine ordentliche Schärfe, die dennoch mehr unterstützt als überlagert – ein Signature-Gericht, wie es sein muss. Genau wie die dünn aufgeschnittene Rinderzunge, die geradezu mediterran grazil daherkommt.
Währenddessen legt Timon Michiels das kiloschwere Côte de Bœuf zunächst auf die Plancha in pures Rinderfett, Minuten später kommt es dann auf die glühende Holzkohle eines Mibrasa-Grills. Das ganze Restaurant ist erfüllt von Röstaromen, und auch sonst ist hier alles rustikal-handfest: die Steaks im gläsernen Reifeschrank, die Wände aus Sichtbeton, Fleischerwerkzeuge, die von der Decke hängen, eine Säge, metallene Schutzhandschuhe. Direkt hinter dem Restaurant befindet sich die gläserne Produktion, die jedem Gast für einen Besuch offen steht. Die Karkassen der Rinder und Schweine hängen von der Decke, in den Hallen werden Steaks geschnitten und Würste gemacht. Dierendonck will den Kunden zeigen, dass hier alles zum Besten steht.
Als das Steak kommt, ist schon der erste Eindruck fabelhaft: perfekte Garung, krosse Randstücke, nur ganz wenig Salz. Und dann der Geschmack: umwerfend! Im "Carcasse“ werden Steaks aus aller Welt serviert, doch besonders stolz ist man hier auf Oedslach, ein marmoriertes Stück vom Roten Westflämischen Rind, das acht Wochen am Knochen reift. Ein verblüffender Genuss, denn man sieht das Fett nicht, aber man schmeckt es. Weil es so zart ist und so rein – unglaublich! Auf Pommes als Beilage verzichtet das "Carcasse“, man will kein Steakhaus sein, eher ein Gourmetrestaurant. Und so schmecken die Beilagen dann auch, der Blumenkohl, der Chicorée und das Püree.
Dass die Bausünden der Küste vor seiner Haustür anspruchsvolle Urlauber abschrecken könnten, sieht Dierendonck gelassen: "Ja, es stimmt, es ist ein verrückter Ort, dieser Landstrich. Aber hey, er ist auf jeden Fall einzigartig." Als Kind spielte der Flame in den Dünen, damals war der Bauboom in vollem Gange. "Die Dünen waren mein Garten. Und keine zwei Kilometer im Hinterland ist unsere Farm – da sieht es dann wieder ganz anders aus, ländlich und grün." Doch wir wollen nicht ins Hinterland, wir bleiben an der Küste.
Kurzes Warten auf die Tram, dann geht’s weiter. Drinnen sitzen an diesem Mittag Familien mit Kindern auf dem Weg zum Lieblingsstrand, daneben Rentner:innen, die vom Einkaufen kommen. Die Bahn ist die Lebensader der Küste. Vor Ostende geht es entlang der Dünen, auf dem Meer sieht man Containerschiffe, sie warten auf das Einlaufen in den Hafen von Zeebrügge.
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Haltestelle Duinbergen
Wieder so ein Un-Ort. Duinbergen ist eines von vielen kleinen Dörfern, die zu Knokke gehören – na ja, früher waren es mal Dörfer. Heute ist auch hier alles verbaut, zum nächsten Ziel geht es immer am Strand lang, links liegen die Terminals des riesigen Hafens, Gasterminals inklusive. Der Blick aus dem "Sel Gris" könnte also schöner sein, doch der Gastraum von Frederik Deceunincks Restaurant ist voll besetzt. Auf jedem Tisch stehen Brot, Öl, Schmalz und das namensgebende graue Salz. Seit seinem 15. Lebensjahr kocht der Flame, der hier geboren wurde und die Hotelfachschule von Brügge besuchte. "Für mich hat diese Gegend einen großen Charme. Im Winter kennen sich hier alle, weil dann nur noch wenige Menschen hier wohnen. Dann ist es immer noch wie auf dem Dorf", sagt er, der sich während des Mittagsservices sogar die Zeit nimmt, seine kleinen Kinder zu bekochen, die gerade aus der Vorschule kommen.
Küstentram Belgien: Haltestelle Marie-Joséplein
Die Triennale Beaufort, eine Ausstellung für moderne Kunst, findet alle drei Jahre an dieser Küste statt. Die "Rock Strangers“ an der Strandpromenade von Ostende sind ein Überbleibsel davon: neun riesige Skulpturen, die aussehen wie zerdrückte Dosen. Ein Hingucker. Gleich um die Ecke befindet sich die Vistrap, die Fischtreppe, die beim Hafenumbau im 19. Jahrhundert entstand. Hier landen die Fischer allmorgendlich ihren Fang an, der dann an überdachten Ständen verkauft wird. Die Nordseefische sind alle vertreten, besonders beliebt sind die grauen Garnelen von Ostende, die von den Einheimischen gleich an Ort und Stelle gepult werden. Traditionell werden sie in frittierten Kroketten serviert – oder mit Mayonnaise in rohe Tomaten gefüllt, dazu eine Portion Pommes. Eine Delikatesse, die man sich direkt am Strand gönnen sollte, denn in der Tram ist der Verzehr allzu fettiger Köstlichkeiten untersagt.
Die Küche im Sel Gris
So, wie man sich an dieser Küste manchmal wie in einer anderen Zeit vorkommt, so ist auch die Küche im "Sel Gris": Wer große Sehnsucht nach der Nouvelle Cuisine der frühen Neunziger hat – hier gibt es sie noch. Da kommen zwei getürmte Cannelloni von Garnelen, Feta und Honigmelone auf den Tisch, danach eine gebratene Foie gras mit drei dünnen Scheiben einer rohen Jakobsmuschel, alles hier ist Déjà-vu. Nach dem sahnigen Menü ist ein Spaziergang Pflicht – wir laufen gen Norden, und in ruhigeren Abschnitten kommt tatsächlich so etwas wie Strandromantik auf. Das Meer ist schön, der Himmel mit kleinen Wölkchen überzogen. Durchatmen und Wohlfühlen, so kann es hier auch sein. Jederzeit kann man auch nach Brügge fahren, mit dem Zug sind es gerade mal 30 Minuten. Die Stadt ist der meistbesuchte Ort Belgiens, auf Schritt und Tritt lockt eine neue Augenweide. Grote Markt, Belfried, Heilig Blut-Basilika – das Zentrum ist eine der besterhaltenen Stadtanlagen Europas. Noch schöner ist es hier allerdings am Abend, wenn die vielen Reisebusse wieder abgefahren sind.
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Haltestelle Wenduine Centrum
Zurück ans Meer – und in einen Vorort von De Haan, dem einzigen Villenort dieser Küste, der sogar schöne Bäderarchitektur aufweisen kann. Er heißt Wenduine, und dort gibt es das "Yelo", ein modern eingerichtetes Restaurant mit 40 Plätzen. Deshalb stutzen wir beim Eintreten, denn wir werden lediglich von einem jungen Paar empfangen – den Patrons, Jessica Vansever und Lorenzo Catteeuw. Und mehr Angestellte gibt es hier auch nicht. Sie kocht, er serviert. Wer einmal lernen will, wie man zu Hause für viele Freund:innen kocht, ohne den Überblick zu verlieren, der sollte den Tisch direkt an der Küche reservieren – und sich davon beeindrucken lassen, wie ordentlich die Produkte in Boxen eingeräumt sind und wie exakt geplant ein solcher Abend ablaufen kann.
Wie diese junge Frau kocht, ist bemerkenswert: Hier ist nichts modular, und nichts wird lauwarm serviert wie derzeit gerne so oft. Ganz ruhig läuft Jessica Vansever zwischen Herd und Kühlschränken hin und her, hat manchmal vier Pfannen gleichzeitig auf dem Feuer. Sie liebt das Kochen, das sieht man – und sie kann diese Liebe auf die Teller bringen. Etwa beim Tatar vom Seebarsch, der mit der Frische der Gurke und der Schärfe des Jalapeño bestens zurechtkommt. Und beim sehr gut gebratenen Glattbutt, dessen Langustinen-Bisque davon zeugt, welches Talent diese Köchin für Saucen hat.
Haltestelle De Haan Aan Zee
Die älteste Haltestelle an der Lijn, seit 1903 steht sie hier, das Gebäude ist schönste Belle Époque. Gegenüber liegt die Marktstraat mit tollen Geschäften. Für den Einkauf von Mitbringseln eignet sich besonders der Käseladen Bovèr. Die jungen Besitzer Axelle Vermandele und Tibo Borgoo bieten hier eine riesige und feine Auswahl an Rohmilchkäse sowie belgischen und holländischen Käse-Spezialitäten wie Gouda, Passendale oder Brugge Blome. Dazu gibt es passende Weine und belgische Biere. Nach 67 Kilometern in drei Tagen ist die Fahrt mit der Belgischen Küstentram zu Ende. Zwar haben die Bausünden ihren Schrecken nicht völlig verloren, doch man weiß nun, warum die Menschen hier diesen Landstrich dennoch lieben – nicht von ungefähr sind viele Köche ihr Leben lang geblieben. Und kulinarisch ist zwischen De Panne und Knokke noch lange nicht Endstation.