"St. JOHN": Trendrestaurant in London
Nose-to-Tail-Eating: Revival für die britische Küche
Als Fergus Henderson 1994 in einer ehemaligen Londoner Schinkenräucherei gemeinsam mit dem Weinfreak Trevor Gulliver das „St. JOHN“ eröffnete, erklärten ihn nicht wenige Leute für verrückt. In das Stadtviertel um den benachbarten Smithfield Market zog es nur wenige. Schweinehälften waren damals noch keine Attraktion, sondern ein Grund, die Gegend zu meiden. Bis der damals 31-jährige Brite nicht nur die Hälften in die offene Küche seines neuen Restaurants liefern ließ, sondern gleich die ganzen Tiere – und quasi nichts davon das Haus wieder verließ, weil er alles verarbeitete.
Henderson verhalf mit dem „St. JOHN“ der britischen Küche zu einem fulminanten Revival und führte das Nose-to-Tail-Eating in die Restaurantwelt ein.
Das war für ihn einfach eine Frage des Respekts: „Wenn man ein Tier tötet, ist es ein Akt der Höflichkeit, es auch aufzuessen“, sagt der Mann, dessen Markenzeichen die runde Brille und der gestreifte Anzug wurden. Mit dieser Überzeugung legte er den Grundstein für einen globalen Bewusstseinswandel.
"St. JOHN" – Nachhaltigkeit statt Show und Chichi
So sehr Hendersons Philosophie seither weltweit Denkweisen verändert hat, so treu ist sich bis heute das Lokal geblieben, das ihre Keimzelle war. Das „St. JOHN“ ist der vielleicht zeitloseste Ort der britischen Gastrowelt, und genau das ist auch ein wichtiger Bestandteil seiner nachhaltigen Bedeutung.
Die nackten Wände haben noch immer das gleiche nüchterne Weiß, das zusammen mit den schwarzen Industrielampen an der hohen Decke schon damals bei manchen eine Schlachthof-Assoziation erzeugte. Die lebhafte Atmosphäre, die offene Küche, die nicht wirklich bequemen Holzstühle an kleinen Tischen mit weißem Papier auf Leinendecken und die kurzstieligen schlichten Gläser, in die konsequent Wein jeder Art wie auch Wasser eingeschenkt wird – keine Show, kein Chichi.
Der einzige Luxus sind die ganzen Tiere bester Herkunft in der gekachelten Küche.
Inspiration für Food-Touristen und Köche aus aller Welt
Die Karte wechselt seit 25 Jahren jeden Tag, manchmal sogar zweimal an einem, weshalb sie zweckmäßig aus einem bedruckten Blatt Papier besteht, auf dessen Kopf das Logo des fliegenden Schweins prangt.
Die legendären gerösteten Markknochen mit Petersiliensalat und Toast sind von ihr allerdings nicht wegzudenken, sondern geradezu das Markenzeichen des „St. JOHN“ und sein Signature Dish der frühen Jahre. Kein anderes Gericht mutete damals wohl so archaisch und maskulin an wie das Roast Bone Marrow with Parsley Salad, kein anderes wurde zu einem so einflussreichen Symbol einer neuen Nachhaltigkeit.
Food-Touristen überqueren dafür sogar Ozeane und pilgern ins „St. JOHN“ wie andere auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Es inspiriert bis heute Köche in aller Welt, selbst in Schwedens entlegensten Winkeln.
"What you see is what you get": Das Geheimnis der Geradlinigkeit
In der ersten Zeit nach der Eröffnung waren unter den Gästen noch viele Neugierige, die ins „St. JOHN“ wie zu einer Mutprobe gingen und der Welt beweisen wollten, dass sie sich auch exotische Innereien wie Kalbshirn zu essen trauten. Heute isst man hier ganz selbstverständlich diverse Innereien wie Kutteln. Zaghafte halten sich an Unverfängliches wie Kaninchen mit Rotkohl und Pflaumen oder versuchen sich am saftigen Perlhuhn mit krosser Haut.
Wenn der Kellner dann schließlich mit zufriedenem Lächeln den Teller abräumt, sollte man bei aller Seligkeit nicht versäumen, noch ein Dessert zu bestellen. Die frisch gebackenen und warm servierten Mini-Madeleines sind berühmt und beweisen die Klasse der eigenen Bäckerei. Außerdem sind sie ein gutes Beispiel für die Geradlinigkeit des „St. JOHN“.
Sehen anderswo Gerichte aus, als hätte ein ganzes Team von Designern die Quintessenz der Ästhetik auf erdfarbener Keramik gestaltet, gilt hier ganz simpel: What you see is what you get, nicht mehr und nicht weniger.
Die "St. JOHN"-Familie
Schaut man dann endlich zufrieden von seinem Teller auf und sieht sich um in dem großen Raum, entdeckt man fast immer auch bekannte Köche an dem einen oder anderen Tisch. Die schätzen das Unprätentiöse und trinken aus den kleinen kurzen Gläsern schon mal ganz selbstverständlich einen 93er Château L’Évangile aus Pomerol.
Alle Weine auf der Karte kommen aus Frankeich, das ist seit den Anfangstagen so und wird wohl auch so bleiben, schon weil mittlerweile ein eigenes Gut im Languedoc zur „St. JOHN“-Familie gehört.
Neben dem Weingut zählen insgesamt drei Restaurants, eine Bäckerei und eine Weinbar zur "St. JOHN"-Familie. Dazu hat Fergus Henderson schon mehrere Kochbücher veröffentlicht, von denen „Nose-to-Tail-Eating“ längst den Charakter eines Standardwerks hat. Der Bäckereizweig soll weiter gestärkt werden, schon weil die Nachfrage anderer Londoner Köche nach gutem Brot so groß geworden ist.
Echte Expansionspläne gibt es aber trotz des Erfolges nicht, und auch kein strategisches Konzept. Fergus Henderson, der mittags gern vorn zwischen Bar und Bäckerei-Tresen sitzt, macht mit seinem Team weiterhin, was er immer schon getan hat: Er sorgt dafür, dass es einfach gut schmeckt.