Markus Lanz: Südtirols letzte Bergbauern


Markus Lanz: Südtirols letzte Bergbauern
Der TV-Moderator Markus Lanz hat eine besondere Beziehung zu Südtirol, nicht nur, weil er dort geboren ist. Als leidenschaftlicher Fotograf dokumentiert er eine Welt, die Südtirol-Touristen nur selten zu Gesicht bekommen: In eindrucksvollen Fotos porträtiert er die letzten Bergbauern, deren Vorfahren diese zauberhafte Kulturlandschaft einst unter unvorstellbaren und jahrelangen Mühen erschufen. Im Interview beschreibt er das karge Leben auf den Höfen hoch oben in den Bergen und erzählt, warum die Bauern trotzdem stolze Menschen sind.

Kaum eine andere Region in Italien ist so vielseitig wie Südtirol. Was fasziniert Sie am meisten?
So einfach es klingen mag, es sind zuallererst die Jahreszeiten. Jede ist ganz eigen, jede muss sich unglaublich hartnäckig Platz verschaffen und durchsetzen.
Das Frühjahr muss den Winter erst verdrängen, bevor es die erste Wärme schicken kann. Der Sommer muss sich wirklich anstrengen, um das Frühjahr abzulösen; manchmal schneit’s bei uns oben noch im Juni! Und dann kommt der Herbst, die Zeit, in der alles stirbt. Dieses Sterben in der Natur ist eine ganz besondere Verwandlung, die sich langsam vollzieht. Das geht mindestens bis Ende November. Zuerst werden die Lärchen gelb, dann dunkelgelb, irgendwann rot, und schließlich geht es über in ein ganz dunkles, erdiges Braun. Da ist immer noch Leben, immer noch Energie, erst wenn der erste Schnee kommt, ist es endgültig vorbei. Der November ist eine wunderschöne Zeit, für mich die schönste. Dann gehört das Land für ein paar Wochen wieder den Südtirolern.
Was mich außerdem fasziniert: Südtirol ist das Land, in dem immer mindestens einmal am Tag die Sonne scheint. Egal, welches Tiefdruckgebiet über das Land zieht, und ob es aus Kübeln gießt oder schneit – irgendwann kommt die Sonne durch. Immer. Das habe ich erst verstanden, als ich in die norddeutsche Tiefebene gezogen bin. Und das ist auch der Grund, warum Südtirol so ein gut gelauntes Land ist (lacht).
Die Schönheit der Südtiroler Landschaft ist auch den Bergbauern zu verdanken, von denen es immer weniger gibt. Einige bestellen in großer Höhe das Land in anstrengender Arbeit. Wie muss man sich deren Welt vorstellen?
Zunächst muss man sich klarmachen, dass die meisten Höfe auf der Südseite der Berghänge liegen. Auf der Nordseite gibt es nur wenige, weil es dort noch sehr viel rauer ist. Auf ihren Höfen haben sie dort oben ein paar Kühe, ein paar Schweine, manchmal Hühner, vielleicht Kartoffeln, aber mit Getreide wird es schon schwierig. Es ist ein sehr, sehr karges Leben. Bis heute.
Früher allerdings war es geradezu unvorstellbar hart. Als die Schulpflicht in Südtirol eingeführt wurde, brachen die Kinder von den hochgelegenen Höfen teilweise morgens um sechs bei Dunkelheit auf, stapften stundenlang durch den Schnee hinunter in die Schule und nachmittags stundenlang wieder hinauf. Sie kamen zurück, wenn die Kühe das zweite Mal gemolken werden mussten und es wieder dunkel war. Bis heute finden wir die Vorstellung, zwei, drei Stunden zu einem Bergbauernhof aufzusteigen, in dem die alten Traditionen gelebt werden, wild-romantisch. Aber das ist die Sichtweise von autofahrenden Städtern!
Tatsächlich haben die Menschen, die dort oben leben, mittlerweile Internet und Mobiltelefon, aber ihr Leben bleibt dabei trotzdem entbehrungsreich. Dass es heute eine Straße hinauf zu jedem Hof und moderne Kommunikation gibt, ist vor allem dem ehemaligen Landeshauptmann Luis Durnwalder zu verdanken. Er ist selbst Bauernsohn und sorgte dafür, dass man die abgelegensten Höfe auch mit dem Auto erreichen konnte. Das ist sicher einer der wichtigsten Gründe dafür, dass dort heute überhaupt junge Menschen leben. Sonst wäre diese wunderbare Kulturlandschaft längst verschwunden, so wie es zum Beispiel in Frankreich vielerorts schon passiert ist. In Südtirol gibt es sie – noch.
Markus Lanz: Südtirol's letzte Bergbauern
Aber nicht alle Bergbauern bleiben, einige ziehen das weniger mühsame Leben im Tal vor, die ältere Generation stirbt aus. Was passiert mit den Höfen, mit den Wiesen und Feldern, wenn sie nicht mehr bewirtschaftet werden?
Die Natur holt sie sich zurück. Das ist ein schleichender Prozess: Zuerst wächst ein einzelnes Bäumchen, eine Fichte oder eine Erle vielleicht, dann entsteht ein Jungwald, und plötzlich, nach Jahren, steht da wieder ein richtiger Wald. Ein Feld, das nicht regelmäßig gemäht wird, wird immer brauner und ungepflegter, es verbrennt. Umgekehrt sieht man die gepflegte, schöne Berglandschaft mit all den gemähten Wiesen, ganz selten sogar noch von Hand geschnitten. Dafür machen EU-Subventionen Sinn. Ein kleiner Südtiroler Bergbauer mit acht Kühen, der diese Landschaft pflegt, kann mit einem Brandenburger Bauern, der 500 Kühe und im Übrigen auch eine Menge Probleme hat, natürlich nicht mithalten.
Aber diese Kulturlandschaft zu erhalten, ist bis heute eine große Anstrengung für die, die es tun. Die Kinder helfen nicht nur auf dem Hof. Fast alle arbeiten zusätzlich unten im Tal in Fabriken. Ein Bauernsohn, den ich gut kenne, ist zum Beispiel in einer großen Käserei beschäftigt. Dort macht er im Winter freiwillig so viele Überstunden, dass er den ganzen Sommer über frei hat. Wobei „frei“ bedeutet: Er nutzt diese Zeit, um den Sommer über mit vollem Einsatz auf dem Bauernhof der Familie tätig zu sein. Seine Schwester wiederum arbeitet bei einem großen Autozulieferer in langen Schichten. Die kommt von der Nachtschicht nach Hause, schläft ein paar Stunden und geht aufs Feld, um das Heu einzubringen. Und abends geht’s dann wieder zur nächsten Nachtschicht. Die Bergbauern bewältigen körperlich ein unglaubliches Pensum, und zwar rund um die Uhr. Und trotzdem habe ich die erwähnten Geschwister noch nie klagen hören.
Warum nehmen die Bauern die Entbehrungen auf sich?
Ihre Tradition ist ihnen eine besondere Verpflichtung. Die wird nicht wortreich besprochen, sondern einfach gelebt. Sie wissen um ihre Vorfahren, die der Natur da oben vor Jahrhunderten überhaupt erst eine Existenz abgetrotzt haben. Man muss sich das mal mit den Möglichkeiten des 18. oder 19. Jahrhunderts vorstellen: steile Hänge, überall Bäume. Die haben sie per Hand abgeholzt, und zwar Hunderte, Tausende. Dann wurde jede einzelne Wurzel ausgegraben und mit Pferden aus dem Boden gezogen, und zwar so lange, bis aus dem Wald irgendwann ein Feld wurde. Diese Mühen sind im kollektiven Bewusstsein der Familien tief verankert. Da gibt man das Land nicht einfach auf, das so viel mehr ist als eine Erbschaft.
Und diese Menschen sind stolz auf ihre Unabhängigkeit. Sie sind stolz darauf, nicht für alles in den Supermarkt gehen zu müssen. Ihre Unabhängigkeit verleiht ihnen eine ganz eigene Art von Würde, die sind nicht korrumpierbar. Natürlich ist ihnen Geld wichtig, aber es ist kein Selbstzweck. All das ist sicher der komplette Gegenentwurf zur Welt von heute. Wir sind so eitel und egozentrisch geworden, dass wir selbst die Pizza bei Facebook posten, die wir abends essen, weil wir offenbar glauben, dass diese Pizza für die Welt bedeutend ist. Für so etwas hat ein junger Bergbauer einfach keine Zeit. Denn morgens um sechs will die Kuh gemolken werden.
Was sollte man Südtirol für die Zukunft wünschen?
Natürlich sind auch der Massentourismus und die Globalisierung über das Land hinweggerauscht. Ich habe in den letzten Jahren schon öfter den Satz gehört: „Es ist doch alles nur noch für Touristen.“ Diese Entwicklung ist nicht gut, denn dann verliert man irgendwann die eigenen Leute. Südtirol ist eine erstaunliche Erfolgsgeschichte: Innerhalb weniger Generationen wurden aus bitterarmen Bauern zumeist sehr wohlhabende Leute. Das ist ein Segen, betrifft aber nicht alle.
Und das Ganze hat auch eine Kehrseite. Die vielen Touristen treiben die Preise enorm in die Höhe, und zwar auf allen Ebenen: Immobilien, Lebensmittel usw. Vielleicht wäre es ganz gut, jetzt das Tempo mal ein bisschen rauszunehmen, damit Land und Leute hinterherkommen.
Über Markus Lanz
Der Fernsehmoderator ist in Bruneck geboren, hat seine Kindheit und Jugend dort verbracht. Bis heute ist er regelmäßig in der Region. Neben seiner Talkshow „Markus Lanz“ im ZDF produziert er eigene TV-Dokumentationen, unter anderem über die Polargebiete. Bei National Geographic veröffentlichte er einen eindrucksvollen Bildband mit seinen Fotos von Menschen und Landschaften in Grönland („Grönland: Meine Reisen ans Ende der Welt“). Mit der Kamera hält er auch die Welt der Bergbauern in Südtirol fest.