Virgilio Martínez – Missionar in den Anden
Große Glastüren, die sich lautlos öffnen, eine verglaste Fassade, im Inneren gläserne Wände und Türen, eine vollständig einsehbare Küche: Das „Central“ in Limas hippem Viertel Barranco macht auf den ersten Blick deutlich, dass es viel mehr sein soll als nur eine der erfolgreichesten Gourmetadressen Südamerikas. Ein Schaufenster peruanischer Produktvielfalt ist dieses Flaggschiff von Perus bestem Koch Virgilio Martínez, es soll die unbekannten Schätze des eigenen Landes entdecken, sie nutzbar machen – und die Welt von ihren Qualitäten überzeugen.
Das Menü nach Höhenlagen
Im Sommer 2018 ist das „Central“ vom Stadtteil Miraflores in die Casa Tupac gezogen, ein ehemaliges Kulturzentrum. Hier wollten sie transparent und offen sein, und zwar für alle, erklärt Malena Martínez, Schwester des Chefs und Leiterin des interdisziplinären Projekts Mater Iniciativa, das in Perus vielfältiger Natur nach Essbarem forscht. Seit Virgilio Martínez 2008 das „Central“ eröffnete, erkundet er mit einem Team aus Ernährungswissenschaftlern, Botanikern und Anthropologen die Vegetationszonen des Landes – größtenteils zu Fuß. Angesichts der vielen Höhenmeter, die sie dabei überwunden hatten, sei ihnen klar geworden, dass man das Land vertikal betrachten müsse, um seinen Artenreichtum zu verstehen. Sie erforschen, auf welcher Höhe es welche Produkte gab, katalogisierten sie und überlegten, wie man sie im Restaurant verwenden könne. Daraus entstand die Idee, das Menü nach Höhenlagen zu konzipieren, das heute „Alturas Mater“ heißt. Wer im „Central“ isst, begibt sich auf eine kulinarische Entdeckungsreise vom Pazifik bis in die Anden.
huatia
Die beginnt schon im Eingangsbereich: In den Vertiefungen einer großen Steinplatte liegen unbekannte Samen, Beeren und Knollen, Gläser mit fremdartigen Kräutern werden in Regalen ausgestellt. Mehr als 150 Ausstellungsstücke sind es mittlerweile insgesamt – ein Spiegel der essbaren peruanischen Artenvielfalt. Im Garten spazieren die Gäste vorbei an Miniaturen verschiedener Ökosysteme und an der Schauversion eines Erdofens aus der Prä-Inka Zeit. Die Bauern in den Anden nutzen solche Öfen noch heute für die spezielle Kochtechnik huatia, mit der sie Kartoffeln und andere Knollen garen. Wie Virgilio Martínez solche historische Verfahren in die Gegenwart überträgt, kann man dank den gläsernen Wänden der Küche von fast allen der rund 40 Plätze aus beobachten. Die 18 Köche wirken wie die Darsteller eines Stummfilms: Man sieht alles und hört nichts.
Die Rohstoffe aus den Hochanden
Die Speisenkarte spiegelt die Erde und die Herkunft der Zutaten wider: ein rundes Blatt handgeschöpftes Papier, auf dem die 16 Gänge des Degustationsmenüs „Alturas Mater“ spiralförmig aufgeführt sind, von außen bis in die Mitte. Die Titel der Gerichte erklären, woher die Zutaten kommen, mitsamt der Höhenangabe. „Desertic Coast“ etwa, in kleinen Schälchen kühl serviert, besteht aus 110 Meter über dem Meeresspiegel gewachsenem Kaktus sowie Muschel und Algen. Die getrockneten Stränge schwarzer und gelber mashua (Knollige Kapuzinerkresse), die als „High Altitude Farmlands“ mit Entenconfit serviert werden, stammen aus 3750 Meter Höhe, kculli (lila Mais), kiwichas (bordeauxroter Amaranth) und choclo (gefriergetrocknete weiße Kartoffeln) für „Extreme Altitude“ sogar aus einer 4350 Meter hohen Region. Um zu erfahren, was man da isst, braucht man nicht Google zu konsultieren – der Service zeigt die Rohstoffe aus den Hochanden auf Wunsch am Tisch vor.
Durch 16 Höhenlagen Perus
Durch 16 verschiedene Höhenlagen reist, wer das Menü bestellt, die Zutaten stammen zu 100 Prozent aus Peru. 400 Kartoffelarten und 60 Maissorten kennt Martínez, dazu weitere essbare Naturschätze, gefunden auf Wanderungen mit Kleinbauern durch die Anden oder auf Touren in den Regenwald. „Dabei“, sagt der 42-Jährige, „inhaliere ich auch unsere uralten Kulturen und deren immer noch lebendigen Gebräuche.“ Indem er und sein Team ihre Entdeckungen in einem berühmten Restaurant der Welt präsentierten, trügen sie einerseits zum Schutz der Biodiversität bei. Zum anderen könnten die Gäste lernen, welch interessante Flora Perus Ökosysteme haben: „Das Mater-Projekt bildet gewissermaßen die Seele unserer Restaurants.“
Restaurant und Versuchslabor
Spannungsreich, harmonisch und geheimnisvoll„
Ein Erlebnis, das Horizonte öffnet
Wie bei einer Achterbahnfahrt geht es auf und ab in der Speisenfolge, mit der Martínez Perus Landschaften und Kochtechniken interpretiert. Bei „Sea Terrain“ (15 Meter) mit Tintenfisch, Johannisbrot und Braunalge widmet er sich dem Meer und den Niederungen der trockenen Küstenregion, dann geht es bei „Andean Woods“ mit Lamm, olluco und Schafsmilch auf 2980 Meter hinauf. Aus einer Höhe von 190 Metern kommen die Zutaten für „Amazonian Lake“: Piranhas, präsentiert als Fischköpfe mit ihren spitzen Zähnen, die sonnengelbe süßsaure Frucht cocona, Maniok und das rote Gewürz annatto. Ein fantasievoller Reigen von Überraschungen und neuen Geschmackserlebnissen – ein Essen im „Central“ ist wahrlich ein Erlebnis, das Horizonte öffnet.