Missionar in den Anden

Virgilio Martínez – Missionar in den Anden

Virgilio Martínez gilt als der beste Koch Südamerikas. Sein „Central“ in Lima ist Restaurant und Forschungsküche zugleich: Es feiert die erstaunliche Vielfalt essbarer Pflanzenarten in allen Höhenlagen Perus
Datum24.02.2022
Virgilio Martínez hat sein Restaurant „Central“ zur Schaubühne für die Naturschätze und Traditionen Perus gemacht: Mit Gerichten wie „Arañas de Roca“ ist sein Menü eine kulinarische Reise durch alle Zonen des Landes.

Große Glastüren, die sich lautlos öffnen, eine verglaste Fassade, im Inneren gläserne Wände und Türen, eine vollständig einsehbare Küche: Das „Central“ in Limas hippem Viertel Barranco macht auf den ersten Blick deutlich, dass es viel mehr sein soll als nur eine der erfolgreichesten Gourmetadressen Südamerikas. Ein Schaufenster peruanischer Produktvielfalt ist dieses Flaggschiff von Perus bestem Koch Virgilio Martínez, es soll die unbekannten Schätze des eigenen Landes entdecken, sie nutzbar machen – und die Welt von ihren Qualitäten überzeugen.

Das Menü nach Höhenlagen

Im Sommer 2018 ist das „Central“ vom Stadtteil Miraflores in die Casa Tupac gezogen, ein ehemaliges Kulturzentrum. Hier wollten sie transparent und offen sein, und zwar für alle, erklärt Malena Martínez, Schwester des Chefs und Leiterin des interdisziplinären Projekts Mater Iniciativa, das in Perus vielfältiger Natur nach Essbarem forscht. Seit Virgilio Martínez 2008 das „Central“ eröffnete, erkundet er mit einem Team aus Ernährungswissenschaftlern, Botanikern und Anthropologen die Vegetationszonen des Landes – größtenteils zu Fuß. Angesichts der vielen Höhenmeter, die sie dabei überwunden hatten, sei ihnen klar geworden, dass man das Land vertikal betrachten müsse, um seinen Artenreichtum zu verstehen. Sie erforschen, auf welcher Höhe es welche Produkte gab, katalogisierten sie und überlegten, wie man sie im Restaurant verwenden könne. Daraus entstand die Idee, das Menü nach Höhenlagen zu konzipieren, das heute „Alturas Mater“ heißt. Wer im „Central“ isst, begibt sich auf eine kulinarische Entdeckungsreise vom Pazifik bis in die Anden.

huatia

Virgilio Martínez hat sein Restaurant „Central“ zur Schaubühne für die Naturschätze und Traditionen Perus gemacht: Mit Gerichten wie „Arañas de Roca“ ist sein Menü eine kulinarische Reise durch alle Zonen des Landes.

Die beginnt schon im Eingangsbereich: In den Vertiefungen einer großen Steinplatte liegen unbekannte Samen, Beeren und Knollen, Gläser mit fremdartigen Kräutern werden in Regalen ausgestellt. Mehr als 150 Ausstellungsstücke sind es mittlerweile insgesamt – ein Spiegel der essbaren peruanischen Artenvielfalt. Im Garten spazieren die Gäste vorbei an Miniaturen verschiedener Ökosysteme und an der Schauversion eines Erdofens aus der Prä-Inka Zeit. Die Bauern in den Anden nutzen solche Öfen noch heute für die spezielle Kochtechnik huatia, mit der sie Kartoffeln und andere Knollen garen. Wie Virgilio Martínez solche historische Verfahren in die Gegenwart überträgt, kann man dank den gläsernen Wänden der Küche von fast allen der rund 40 Plätze aus beobachten. Die 18 Köche wirken wie die Darsteller eines Stummfilms: Man sieht alles und hört nichts.

Die Rohstoffe aus den Hochanden

Virgilio Martínez hat sein Restaurant „Central“ zur Schaubühne für die Naturschätze und Traditionen Perus gemacht: Mit Gerichten wie „Arañas de Roca“ ist sein Menü eine kulinarische Reise durch alle Zonen des Landes.

Die Speisenkarte spiegelt die Erde und die Herkunft der Zutaten wider: ein rundes Blatt handgeschöpftes Papier, auf dem die 16 Gänge des Degustationsmenüs „Alturas Mater“ spiralförmig aufgeführt sind, von außen bis in die Mitte. Die Titel der Gerichte erklären, woher die Zutaten kommen, mitsamt der Höhenangabe. „Desertic Coast“ etwa, in kleinen Schälchen kühl serviert, besteht aus 110 Meter über dem Meeresspiegel gewachsenem Kaktus sowie Muschel und Algen. Die getrockneten Stränge schwarzer und gelber mashua (Knollige Kapuzinerkresse), die als „High Altitude Farmlands“ mit Entenconfit serviert werden, stammen aus 3750 Meter Höhe, kculli (lila Mais), kiwichas (bordeauxroter Amaranth) und choclo (gefriergetrocknete weiße Kartoffeln) für „Extreme Altitude“ sogar aus einer 4350 Meter hohen Region. Um zu erfahren, was man da isst, braucht man nicht Google zu konsultieren – der Service zeigt die Rohstoffe aus den Hochanden auf Wunsch am Tisch vor.

Durch 16 Höhenlagen Perus

Ernten von Flechten und Rinde an den Bäumen.

Durch 16 verschiedene Höhenlagen reist, wer das Menü bestellt, die Zutaten stammen zu 100 Prozent aus Peru. 400 Kartoffelarten und 60 Maissorten kennt Martínez, dazu weitere essbare Naturschätze, gefunden auf Wanderungen mit Kleinbauern durch die Anden oder auf Touren in den Regenwald. „Dabei“, sagt der 42-Jährige, „inhaliere ich auch unsere uralten Kulturen und deren immer noch lebendigen Gebräuche.“ Indem er und sein Team ihre Entdeckungen in einem berühmten Restaurant der Welt präsentierten, trügen sie einerseits zum Schutz der Biodiversität bei. Zum anderen könnten die Gäste lernen, welch interessante Flora Perus Ökosysteme haben: „Das Mater-Projekt bildet gewissermaßen die Seele unserer Restaurants.“

Restaurant und Versuchslabor

Außer dem „Central“ beherbergt die Villa noch zwei weitere Lokale der Familie Martínez: die Bar „Mayo“ im Erdgeschoss, wo exotische Zutaten in Cocktails verarbeitet und fermentiert werden, sowie das Restaurant „Kjolle“ im ersten Stock. Benannt nach einem bunt blühenden Andengewächs, ist es das neue kulinarische Reich von Virgilio Martínez’ Frau Pia Léon, zuvor Küchenchefin im „Central“. Martínez plant 2020 ein weiteres Restaurants im Amazonasgebiet, berät zwei in London und eröffnete im März 2018 in den Anden das „Mil“. Auf rund 3600 Meter Höhe ist es Restaurant, Versuchslabor und ein Zentrum, in dem Anthropologie, Kultur, Ökologie, Wissenschaft, Tradition und Kochen zusammenkommen. Ein Agraringenieur baut dort mit zwei Gemeinschaften für den Chef nach alter Tradition der Andenbewohner Nutzpflanzen an. Vor allem Knollen wie ollucos und mashua wachsen dort. Im „Central“ werden sie als „Mil Moray“ (3600 Meter) auf arcilla (gebrannten Tonklumpen) und llipta (Kalkasche) serviert, eine Anspielung auf den Erdofen, wie ihn Bergbauern seit Jahrtausenden benutzen.

Spannungsreich, harmonisch und geheimnisvoll„

Anfangs waren meine Kreationen Reverenzen an Küste und Meer“, sagt der Chef, „jetzt liegt der Schwerpunkt eher auf der Hochebene Altiplano bis in Perus Südosten und dem Amazonasbecken.“ Enorm raffinierte und kraftvolle Aromen gewinnt Martínez aus den endemischen Nutzpflanzen. Dabei sind seine Kompositionen zugleich spannungsreich und harmonisch, geheimnisvoll und ungewöhnlich – zumal man als Europäer oft gar nicht weiß, welcher Geschmack einen erwartet.

Ein Erlebnis, das Horizonte öffnet

Virgilio Martínez hat sein Restaurant „Central“ zur Schaubühne für die Naturschätze und Traditionen Perus gemacht: Mit Gerichten wie „Arañas de Roca“ ist sein Menü eine kulinarische Reise durch alle Zonen des Landes.

Wie bei einer Achterbahnfahrt geht es auf und ab in der Speisenfolge, mit der Martínez Perus Landschaften und Kochtechniken interpretiert. Bei „Sea Terrain“ (15 Meter) mit Tintenfisch, Johannisbrot und Braunalge widmet er sich dem Meer und den Niederungen der trockenen Küstenregion, dann geht es bei „Andean Woods“ mit Lamm, olluco und Schafsmilch auf 2980 Meter hinauf. Aus einer Höhe von 190 Metern kommen die Zutaten für „Amazonian Lake“: Piranhas, präsentiert als Fischköpfe mit ihren spitzen Zähnen, die sonnengelbe süßsaure Frucht cocona, Maniok und das rote Gewürz annatto. Ein fantasievoller Reigen von Überraschungen und neuen Geschmackserlebnissen – ein Essen im „Central“ ist wahrlich ein Erlebnis, das Horizonte öffnet.

Partner