Neue schwäbische Küche: Im Revier der guten Zutaten
Zu Gast im Le Cerf bei Boris Rommel
Das Hohenloher Land kommt bei Boris Rommel gleich zu Beginn auf den Tisch – in Form eines mächtigen, knorrigen Stücks Rebstock, auf dem die Amuse-Bouches angerichtet sind. Den dekorativen Tellerersatz holt er sich von den Weinbergen rund um Heilbronn, lässt das Holz zwei Jahre trocknen und bringt dann in seiner Werkstatt zu Hause kleine Schieferplättchen an. Darauf platziert er, was die Region bietet: Wachteleier aus dem nahen Kupferzell, gefüllt mit Eigelbcreme, Kaviar und Gartenkresse, Hefegebäck mit Käse aus Geifertshofen oder gebackenen Kräuterseitling aus den umliegenden Wäldern mit Limettenmayo und Brombeere.
So eingestimmt, sind die Gäste im Gourmetrestaurant Le Cerf des Wald- und Schlosshotels Friedrichsruhe in Zweiflingen bereit für eine Küche, die sich weitgehend aus der Region bedient – und dafür vielfach ausgezeichnet wurde. "Warum sollten wir beim Einkauf in die Ferne schweifen, wenn wir so viele gute Produzenten vor der Haustüre haben?", sagt Boris Rommel.
Regionalküche Baden-Württemberg: Zutaten von kleinen Erzeugerhöfen
Dem Hohenloher Land, gut eine Autostunde nördlich von Stuttgart, sieht man die Genussregion schon beim Durchfahren an. Die grünen Hügel rund um Schwäbisch-Hall sind ein Flickenteppich aus Streuobstwiesen, Weinbergen und Wäldern, dazwischen liegen saftige Wiesen, wo sich Rinder, Schafe und Schweine tummeln. Diese Landschaft tut nicht nur dem Auge gut: Kaum irgendwo in Deutschland ist die Dichte an Bio-Erzeugern größer als hier.
Boris Rommel, den man mit seinen Tattoos und der Schiebermütze auf den ersten Blick eher in Berlin-Kreuzberg verorten würde als in dieser Idylle, möchte – wie immer mehr junge Kolleg:innen – kleine Erzeuger:innen unterstützen und schätzt gerade in diesen Zeiten kurze Wege. Die Forellen von der Fischzucht Merz brauchen vom Teich bis in die Küche gerade mal zehn Minuten, und im Herbst klopfen oft Pilzsammler an die Küchentür. Auch auf dem Käsewagen behauptet sich neben den großen Namen aus Frankreich das kleine Hohenlohe: "Weißer Jagsttaler" und "Kaffeekäse" stammen von der Dorfkäserei Geifertshofen südlich von Schwäbisch Hall.
Regionales Fleisch vom Brunnenhof in Künzelsau
Eine über viele Jahre gewachsene Beziehung verbindet das Haus mit dem Brunnenhof in Künzelsau. Dort wird der Mäusdorfer Landgockel gezüchtet, der in Friedrichsruhe fast immer auf der Karte steht. Auf alten Streuobstwiesen leben die Tiere wie vor hundert Jahren, stolzieren im grünen Gras herum und picken sich saftige Würmer aus der Erde. Bis zu 18 Wochen freuen sie sich ihres Lebens – viermal so lange wie bei konventioneller Turbo-Mast. "Das ist ein ganz anderes Geschmackserlebnis", sagt Boris Rommel. "Auch beim Braten merkt man den Unterschied, die Haut wird schön kross, weil sie viel weniger Wasser enthält."
Ein Mäusdorfer Gockel kostet mehr als manches Bressehuhn, aber das ist es dem Chef wert. Die knusprige Haut bildet einen schönen Kontrast zum saftigen Fleisch, dazu gibt es kleine Kartoffelkrapfen, frisches Gemüse aus dem Garten und eine tiefgründige Sauce, die mit zehn Jahre altem Madeira abgerundet wurde. Die Stilistik des 38-Jährigen verbindet das regionale Engagement mit zeitgemäßer Optik und klassisch französisch geprägter Kochkunst, das passt perfekt ins historische Schlosshotel mitten im Grünen.
Zu Gast im Hirsch Genusshandwerk bei Andreas Sondej
Neuer Geist hinter historischen Fassaden – das kann man im Ländle derzeit überall dort erleben, wo die junge Generation angestammte Familienbetriebe weiterführt. Zum Beispiel im kleinen Weiler Monakam, der zu Bad Liebenzell im Westen Stuttgarts gehört, wo die Natur schon vom Nordschwarzwald geprägt ist. Dort übernahm Andreas Sondej 2014 das Gasthaus seiner Familie – und steht damit in 190-jähriger Tradition.
Er macht im Hirsch Genusshandwerk vieles wieder so wie seine Großeltern, die weitgehend Selbstversorger waren: "Ich bin halb Koch, halb Landwirt", sagt er. Andreas Sondej bewirtschaftet eigenhändig den Kräutergarten der Großmutter, heizt mit Holz, das er im nahen Wald schlägt, und verarbeitet die alten Apfel- und Birnensorten von eigenen Streuobstwiesen nicht nur in seiner Brennerei, sondern auch in manchem Dessert: Zum Sabayon von der besonders aromatischen Sorte Gellerts Butterbirne gesellt er ihr Kompott und Sorbet, darüber gibt er gebrannte Haselnüsse von den Hecken am Waldrand.
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Schwäbische Regionalküche: Zwischen Dorfgasthaus und Fine Dining
Vielleicht, meint Andreas Sondej, habe er seine Heimat erst verlassen müssen, um den Blick für ihre Schätze zu schärfen: Sechs Jahre arbeitete er auf Sylt, führte für Johannes King im Söl’ring Hof die Küche und lernte von dessen norddeutsch geprägten Gerichten, wie bereichernd es für einen Koch sein kann, die Ressourcen vor der Haustür zu nutzen. Heute gelingt dem 38-Jährigen hinter der Fachwerkfassade der Balanceakt zwischen Dorfgasthaus und Fine Dining:
"Wohlgeschmack und ein spannungsreiches Mundgefühl, das ist es, was für mich zählt." Jetzt im Herbst setzt er gern Salat von kandiertem Ackergemüse auf die Karte, die Zusammensetzung diktieren die Felder seines Schwiegervaters. Dann landen zum Beispiel lila Karotte mit ihrem Kraut und Knospen vom blühenden Lauch für eine zwiebelige Note auf dem Teller, dazu scharfes Meerrettich-Eis, und Wildkräuter setzen herbale Akzente
Zu Gast im Maerz & Maerz bei Benjamin Maerz
Von traditioneller Hasthauskultur, wie sie in Schwaben noch stark gelebt wird, wollte Benjamin Maerz sich erst mal distanzieren, als er mit 21 Jahren nach dem plötzlichen Tod des Vaters die Küche im Hotel Rose übernahm. Aus den geplanten Wanderjahren wurde nichts, stattdessen überlegte er sich mit seinem Bruder Christian ein Konzept, um das denkmalgeschützte Haus zukunftsfähig zu machen. Heute verbergen sich hinter der behäbigen Fassade im historischen Ortskern von Bietigheim-Bissingen nördlich von Stuttgart ein zeitgemäßes Hotel und das Gourmetrestaurant Maerz & Maerz.
Sein Fernweh lebt der 34-Jährige auf den Tellern aus, bevorzugt mit asiatischen Elementen. Von den kleinteiligen Kompositionen der Anfangszeit hat er sich verabschiedet. "Wir Schwaben sind eher bodenständig und gelassen, machen nicht zu viel Wind um die Dinge." Deshalb kocht er heute gemäß seiner heimatlichen DNA: "Kein Schnickschnack, sondern Fokussierung auf wenige Produkte."
Schwäbische Küche: Klassiker neu definiert
Inspiration findet er auch in der Küche seiner Großmutter. Aus ihrem schwäbischen Klassiker "Saure Rädle" entstand eines seiner Signature-Gerichte. Was eigentlich eine Art Eintopf mit übrig gebliebenen Kartoffeln vom Vortag ist, bereitet er mit marinierten Süßkartoffeln und confiertem Rettich zu. Die Brühe reichert er mit Schwarzwald-Miso an, die Ponzu setzt er selbst an, mit Yuzu, die in Neckarnähe im eigenen Garten gedeiht – ein bisschen Japan muss sein. Seit Corona gibt es im Haus das Zweitrestaurant "Maerz Burger". Hier servieren die Brüder Premium-Burger, etwa mit Fleisch vom Charolais-Rind, Mozzarella vom Bodensee-Büffel und Wasabicreme. Auch so kann das neue Schwaben schmecken.
Zu Gast im Landgasthof Adler bei Michael Vogel
Das erstarkte Heimatgefühl in der Küche führte auch Michael Vogel wieder nach Hause auf die östliche Alb – dafür gab er sogar den Job beim Schweizer Koch-Superstar Andreas Caminada auf. Seine Mission: Er will eines der berühmtesten Gasthäuser Deutschlands mit neuem Leben füllen, den Landgasthof Adler in Rosenberg. Josef Bauers Küche zog dort jahrzehntelang Gourmets aus nah und fern an, bis er 2016 aus Altersgründen schloss. Seit Februar führt nun sein ehemaliger Mitarbeiter mit seiner Frau Michaela das Haus weiter.
Der neue Hausherr kauft Holzofenbrot beim Traditionsbäcker am Ort, Flusskrebse bringt ein befreundeter Angler, und Spätzle schabt er so übers Brett wie schon seine Großmutter. Eine Leidenschaft hat der 30-Jährige für Wildgerichte – sein Vater ist Förster, die ganze Familie geht zur Jagd. Jedes Reh wird im Landgasthof Adler komplett verarbeitet, von der Bratwurst über das Ragout bis zum schön rosa gebratenen Rücken. Dazu gibt es fermentierte Knoblauchmayonnaise und bunte Karotten von gelb bis lila, lediglich blanchiert und kurz in Butternage geschwenkt.
"Wir wollen das Produkt für sich sprechen lassen, da braucht es kein Chichi auf dem Teller", sagt Vogel. Er freut sich über die neue Verbundenheit, die er unter den jungen Köchen der Region erlebt. Demnächst kocht er bei der Küchenparty im Restaurant Ursprung in Königsbronn, das Andreas Widmann in den vergangenen Jahren zu einer Art Aushängeschild der neuen schwäbischen Küche gemacht hat. Mit von der Partie sind auch Daniel Fehrenbacher vom Adler in Lahr und Alina Bebrout vom bi:braud in Ulm, beide ebenfalls Verfechter einer neuen Regionalküche.
Regionale Küche Baden-Württemberg: 5 typische Produkte
- Bœuf de Hohenlohe: Früher trieb man Ochsen aus dem Hohenlohischen bis nach Paris, wo ihr Fleisch als Delikatesse galt. Heute stammt es (Ochse, Jungkuh) meist vom Limpurger Rind.
- Stuttgarter Gaishirtle: Eine Obstsorte, die selten geworden ist. Eine kleine bauchige Birne mit süßem, fast zimtartigen Geschmack. Sie eignet sich für Desserts, aber auch zum Dörren.
- Schwäbisch-Hällisches Schwein: Schwarzer Kopf, schwarzes Hinterteil und feine Fasern, die das Fleisch äußerst schmackhaft machen.
- Alblinse: Ihr intensiver, aromatisch- nussiger Geschmack kann es mit der Le-Puy-Linse aufnehmen. Beste Wahl für den schwäbischen Klassiker Linsen mit Spätzle
- Alblamm: Das Fleisch der Lämmer, die oft noch mit Schäfern von Wacholderheide zu Wacholderheide ziehen, ist sehr zart, die Wacholdernote nimmt ihm die Schwere.
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Zu Gast im Bio-Fine-Dining Restaurant 1950 bei Simon Tress
Das Revival der Heimatlichen Küche mit ihren ureigenen Produkten und überlieferten Gerichten wie Flädlesuppe, Filderrostbraten oder Gaisburger Marsch auf zeitgemäße Art – das ist Simon Tress nicht genug. In seinem Bio-Fine-Dining Restaurant 1950 in Hayingen-Ehestetten im Herzen der Schwäbischen Alb geht er einen Schritt weiter: Nicht nur stammen alle Produkte aus einem Umkreis von 25 Kilometern, sie sind auch Demeter- oder Bioland-zertifiziert.
Die Jahreszahl 1950 im Namen ist eine Hommage an Großvater Tress, der schon damals begann, den Bauern- und Gasthof der Familie nach biodynamischen Prinzipien zu führen – eine echte Pioniertat. In diesem Umfeld erscheint es selbstverständlich, dass viele Zutaten hausgemacht sind, nicht nur Sahne und Butter, auch Essige, Öle, Senf und Honig. Das Gemüse stammt von eigenen Bioland-Feldern, die den Küchentakt vorgeben.
Neue schwäbische Küche: ehrlich, herzhaft, authentisch, sexy
"Wenn 40 Kilo Blumenkohl vom Acker müssen, um Vitamine und Qualität zu halten, dann ist das für uns Gebot", sagt Simon Tress. Der Kohl wird geputzt, schockgefrostet und im Keller eingelagert, wie alles Gemüse ab November. Im Restaurant hängt ein Schild: "Die Natur macht den Teller." Nichts wandert in den Müll, selbst Rote-Bete-Schalen werden getrocknet, fein gemahlen und zu geschmacksintensivem Eis verarbeitet. Und auf der Karte ist zu jedem Gang der für die Herstellung nötige CO2-Ausstoß angegeben.
Gemüse spielt in der Küche des 38-Jährigen die Hauptrolle, Fleisch tritt ganz dezidiert "nur" als Beilage auf. Wenn etwa ein "Duell" aus Kürbis und Pastinake auf der Karte steht, das eine gebacken, als leicht fermentierter Salat und Püree, das andere geschmort, als Jus und knusprige Chips – dann ist das als komplettes Gericht gedacht. Den Rücken vom Maisenburger Bioland-Rothirsch kann der Gast dazubestellen, er kommt dann gebraten samt Innereien-Raviolo auf einem separaten Teller. Ehrlich, herzhaft, authentisch, so beschreibt Simon Tress die Aromen der Region, die ihn immer wieder inspiriert: "Schwäbische Küche mag nach außen etwas schroff erscheinen", sagt er. "Aber im Herzen ist sie enorm sexy."